Karl Nolle, MdL

Spiegel 31/2015, Seite 108, 29.07.2015

Patsch - Shootingstar der Linken: ein Hausbesuch bei Yanis Varoufakis

 
Ikonen - Er hat seinen Kollegen Wolfgang Schäuble bis aufs Blut gereizt, nun ist er der Shootingstar der europäischen Linken: ein Hausbesuch bei Yanis Varoufakis. Von Thomas Hüetlin und Dirk Kurbjuweit

Wird Yanis Varoufakis bei diesem Gespräch rote oder blaue Pillen verabreichen? Das ist die große und auch die erste Frage. Varoufakis antwortet ganz entschieden: Er habe überhaupt nur rote Pillen im Angebot. Man wird sehen.

Das mit den Pillen stammt aus dem Film „Matrix“. Wer blaue Pillen bekommt, lebt daraufhin in einer Scheinwelt, in einer großen Lüge. Die roten Pillen klären den Blick für die Wahrheit. Varoufakis, so sagt er selbst, sei ein Mann für die Wahrheit, er liebe „Matrix“.

Donnerstag dieser Woche, elf Uhr. Varoufakis öffnet die Tür zu seiner Wohnung in Athen, vierter Stock, ein bürgerliches Viertel. Er trägt Hemd und Jeans, er hat zwei Stunden Zeit. Seine Frau Danae bringt Kaffee und Wasser. Er beginnt das Gespräch in einem freundlichen Ton, er sagt mehrmals: Ich will offen mit Ihnen sein. Es werden zwei interessante Stunden, die aber am Ende ins Merkwürdige kippen.

Yanis Varoufakis ist, neben Wolfgang Schäuble, der Mann der Stunde in Europa. Als Finanzminister ihrer Länder standen sie sich fünf Monate lang gegenüber. Schäuble wollte und will die Griechen aus dem Euro drängen, mindestens vorübergehend. Varoufakis wollte eine milde Behandlung seines Landes durchsetzen. Als das nicht gelang, trat er zurück. Nun gelten beide als Helden: Schäuble für die Fraktion der monetären Hardliner, Varoufakis für die internationale Linke. Als Projektionsfläche für deren Träume wirkt er derzeit überlebensgroß.

Die Linke hatte lange keinen Helden mehr. Der letzte, Fidel Castro aus Kuba, ist sehr alt und lebt zurückgezogen. Nordkoreas Tyrann Kim Jong Un ist selbst für Hartgesottene nicht vermittelbar. Die Linke wartet, und Varoufakis bringt viel mit, was ihn für sie reizvoll machen kann. Er ist ein Intellektueller, er steht im Verdacht, ein Mann von Welt zu sein, da er in der angelsächsischen Welt gelehrt hat, er sieht, so finden manche, gut aus, und er fährt Motorrad, immer noch ein Symbol der Freiheit. Auch Ernesto „Che“ Guevara fuhr Motorrad, und der ist der ewige Held der Linken.

Vor allem aber wirkt Varoufakis wie ein Mann, der Widerstand leistet gegen das, was wahre Linke für unzumutbar halten: gegen den Neoliberalismus, gegen Angela Merkels Übermacht, gegen undurchschaubare Apparate und gegen eine schlaffe Sozialdemokratie. Es gibt viel zu besprechen mit ihm.

Tonband an, das Gespräch nimmt seinen Lauf. Varoufakis erzählt gern, er erzählt gut, lebhaft, gestenreich, zunächst äußerst freundlich. Es beginnt mit Schäuble. Er mag ihn, auch wenn Schäuble ihn bei der ersten Begegnung rüde behandelt habe. Varoufakis war im Februar zum Antrittsbesuch in Berlin, und dann saß da Schäuble und gab ihm nicht die Hand. Sagt Varoufakis. Sie sollten lieber gleich zur Sache kommen, habe Schäuble geschnaubt und sei in sein Büro gefahren. Varoufakis bewegt jetzt seine Arme, als würde er einen Rollstuhl antreiben. Schnelle Fahrt. Schäuble ist meistens schnell unterwegs.

Aber dann, sagt Varoufakis, habe er einige seiner glücklichsten Momente als Finanzminister mit jenem Wolfgang Schäuble gehabt. Es lohne sich, mit ihm zu sprechen, er habe einiges erlebt und deshalb einiges zu sagen. Und er sei der einzige Finanzminister gewesen, der die Wahrheit gesagt habe. Margaret Thatcher ist übrigens auch ein Idol von Varoufakis, trotz ihrer konservativen Revolution in Großbritannien. Er mag Entschiedenheit.

Wenn Varoufakis redet, entsteht ein sehr plastisches Bild von der Euro Gruppe in Zeiten der Krise. 19 Finanzminister, der Vorsitzende Jeroen Dijsselbloem aus den Niederlanden, die Vertreter des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Zentralbank und der Europäischen Kommission. Dijsselbloem eröffnet, dann wird geredet. Jeder hat acht Minuten Zeit. Aber es sei alles vorbestimmt gewesen, sagt Varoufakis, keine echte Debatte, meist verlesene Statements. Wenn er redete, fühlte er sich manchmal, als könnte er auch die schwedische Nationalhymne absingen. Niemand habe zugehört. Und alles sei auf Schäuble ausgerichtet gewesen.

Dem Kerl, sagt Varoufakis, gehöre die EuroGruppe. Er führe sich auf, als hätte er sie erschaffen, als wäre er der Schöpfer. Schäuble sei dort der Komponist und der Dirigent in einer Person, eine Kombination aus Beethoven und Karajan.

Er spricht jetzt wie Schäuble, sagt: meine Kreation, meine Melodie, meine Orchestrierung. Ihm gelingt der deutsche Finanzminister fast perfekt, das grimmige Gesicht, der Kopf, der ständig in Bewegung ist.

Hallo Jungs, ich bin da. Sagt Varoufakis, als er Schäuble nachmacht. Die Jungs, das sind die anderen Finanzminister.

Es sei sehr interessant, ihnen zuzuschauen, wenn sie redeten. Sie hätten den Deutschen dabei beobachtet, und Varoufakis, sagt er, habe in ihren Gesichtern gesehen, dass sie überlegten: Was will er von mir hören? Und das hätten sie dann auch gesagt. Allerdings sei der Meister manchmal mit ihnen unzufrieden gewesen, nicht, weil sie ihm zu wenig nach dem Mund geredet hätten, sondern zu viel. Sie „überschäubleten Schäuble“, sagt Varoufakis. Der habe reagiert wie ein Lehrer, der von seinen Schülern zu liebedienerisch behandelt würde. Hör auf, meine Stiefel zu lecken. Sagt Varoufakis in der Rolle des Schäuble.

Blaue Pille? Rote Pille?

Ein spezieller Fall sei der französische Finanzminister Michel Sapin. Der habe das Problem der asymmetrischen Beziehung seines Landes zu Deutschland. Hoher Anspruch, aber wirtschaftlich und damit politisch nicht mehr auf Augenhöhe. Der Franzose rede blumiger als er selbst, Varoufakis, und manchmal wage er es, eine eigene Position zu beziehen.

Patsch. Varoufakis haut sich mit der linken Hand auf die rechte. So werde die Aufmüpfigkeit Sapins bestraft, mit einem Schlag, sagt Varoufakis. Seine linke Hand war die von Schäuble, seine rechte die von Sapin. Dann ziehe sich der Franzose zurück.

Ein Beispiel: Nach den Wahlen in Griechenland habe Sapin gesagt, nun habe man eine neue Lage, es könne so nicht weitergehen, man brauche einen Ausgleich mit den Griechen. Die Wahlen änderten gar nichts, habe Schäuble gesagt, würde man nach jeder Wahl die Vereinbarungen ändern, käme man zu nichts. Der Franzose, erzählt Varoufakis, sei in seinem Sessel geschrumpft.

Es klingelt. Varoufakis steht auf, geht zur Tür. Journalisten, sagt er. Ständig würden Journalisten kommen. Er setzt sich wieder.

Beim Treffen der Euro-Gruppe in Riga ist Varoufakis nicht zum offiziellen Dinner mit den anderen Finanzministern gegangen. Das gab einen diplomatischen Skandal. Er habe damit den anderen seine Verachtung gezeigt, hieß es. Er sei aber nur müde gewesen, sagt Varoufakis, nach drei Tagen mit unzähligen Arbeitsfrühstücken, Arbeitsmittagessen, Arbeitsabendessen. Sein Referent habe ihm gesagt, der Ort des Dinners sei weit weg, und er wäre dort für drei Stunden eingesperrt gewesen, mit Darbietungen im Volkstanz als Rahmenprogramm. Volkstanz. Müsste er in Griechenland drei Stunden lang Volkstänze anschauen, würde er sterben, sagt Varoufakis, der Volkstribun.

Er sei davor nie in Riga gewesen, erzählt er weiter, und habe sich Riga anschauen wollen. Er habe durch den Regen laufen wollen, in der Dunkelheit, die Kälte im Gesicht. Er hat eine poetische Ader, wenn er ins Erzählen kommt. Er sei dann in einem Brauhaus gelandet, sagt Varoufakis, einem deutschen Brauhaus in Riga. Am Ende geht es ja immer um Deutschland in dieser Eurokrise.

Varoufakis sitzt weit vorn auf seinem Sessel. Es ist heiß, er schwitzt, alle schwitzen. Die Balkontür steht weit auf, Straßengeräusche, häufig Polizeisirenen. Nach einer Homestory von „Paris Match“ stand er mal im Verdacht, ein Luxusleben zu führen. Aber dies ist keine Luxuswohnung, auch kein Museum, sondern die Wohnung eines intellektuellen Paares, das nicht modisch sein will, das sich inmitten von Büchern und allerlei Zeugs wohlfühlt. Ein weißes Sofa, ein rotes Sofa, ein blauer Sessel, nicht neu, alles schon lange bewohnt. Zwei goldene Tauben auf einem Sideboard, eine Türstange für Klimmzüge. Seine Frau kommt, um sich zu verabschieden, als er die Geschichte mit „Paris Match“ erzählt. Sie sagt: ein Albtraum. Er sagt: mein Fehler. Er hatte die Journalisten nach Hause eingeladen. Offenbar eine kleine Schwäche von ihm.

Varoufakis stammt aus einer Familie, in der Politik eine große Rolle spielte. Yanis besuchte Moratis, eine exklusive Privatschule in Athen, danach studierte er in Essex und Birmingham, lehrte in Glasgow und Cambridge, bevor er Spieltheorie in Sydney unterrichtete. In den Nullerjahren kehrte er zurück nach Athen, wo ein Lehrstuhl auf ihn wartete. Im Januar wurde er ins griechische Parlament gewählt, mit den meisten Stimmen aller Abgeordneten, ohne Mitglied von Syriza zu sein. Varoufakis nennt sich einen Sozialisten. Er sagt, nur ein Sozialist könne ein Demokrat sein.

Dann spricht er über Angela Merkel und kommt mit einer Überraschung: Sie war mal die Frau, die seine Hoffnungen trug. In der griechischen Regierung dachten sie, Merkel würde, anders als Schäuble, nicht wollen, dass der Euro auseinanderbricht. Sie würde eines Tagen kommen, „wie die Kavallerie in Westernfilmen“, und die Griechen raushauen. Allerdings komme die Kavallerie nicht sofort, auch im Western nicht, und deshalb hätten sie alles getan, um Zeit zu gewinnen, zum Beispiel Schuldscheine ausgegeben. Und auf Merkel gewartet.

Eine seltsame Vorstellung: Wie Tsipras und Varoufakis in ihrem war room sitzen, von Schäubles Indianern belagert werden und darauf warten, dass die Kavallerie trompetend heranreitet, Merkel an der Spitze. Dann kam sie ja auch, in Form des dritten Hilfspakets, dessen Reformvorschriften Tsipras durch das Parlament bringen muss. In langen Sitzungen, und draußen demonstriert währenddessen ein Teil des Volkes, weil es nicht hinnehmen will, dass die Mehrwertsteuer für viele Waren von 13 auf 23 Prozent steigt, dass die Renten gekürzt werden und es einen Privatisierungsfonds geben soll, den die Griechen nicht selbst kontrollieren.ie Kavallerie hat zwar den Indianerhäuptling Schäuble zurückgedrängt, sie gibt aber den Geretteten das Gefühl, eher das Opfer zu sein.

In dieser Phase des Gesprächs wirkt Varoufakis manchmal so grimmig wie Schäuble. Es ist ja auch kein Vergnügen, darüber zu reden, wie das eigene Land kujoniert wird, so sieht er das. Es tut ihm weh. Eigene Fehler? Ja. Viele. Vor allem eine Zustimmung, die er nicht hätte geben dürfen.

Varoufakis sagt, dass Schäuble liberaler sei als Merkel. Er habe Griechenland aus dem Euro boxen wollen, ohne das ideologisch zu sehen. Griechenland ohne Euro hätte seinetwegen von Syriza regiert werden können. Merkel dagegen gehe es darum, Syriza zu demütigen und aus der Regierung zu verjagen. Was ihr nur mit ihm, Varoufakis, geglückt ist. Er trat zurück, er wollte das nicht mitmachen. So sagt er es.

Varoufakis wirkt in diesem Gespräch manchmal wie der Simplicissimus, der in die Politik geraten ist und sich wundert, wie absurd es dort zugeht. Im Simplicissimus steckt auch der normale Mensch, der nicht verdorben ist von den Umständen eines extremen Lebens, und das Politikerleben ist extrem, auch in seinen Ritualen. Mit Varoufakis geht gerade bei den Linken die Hoffnung einher, Politik könne auch ganz anders sein. Dafür muss er kein Großcharismatiker sein. Er macht nicht den überlebensgroßen Eindruck eines Mannes, der Europa auf links drehen könnte. Groß wird er vor allem als Projektionsfläche der Linken.
 
Für sie steht er für eine Alternative zum bislang herrschenden Wirtschaftsdenken. Neoliberalismus ist ein Begriff dafür. Ein anderer ist Austerität, ein dritter Effizienz, ein vierter Wettbewerbsfähigkeit. All das bedeutet für die Linken, und nicht nur für sie, dass die Politik vor allem an Banken und Unternehmen denke, dass sie sich der Wirtschaft unterwerfe, statt für die Bürger zu handeln. Bundeskanzlerin Merkel sprach von der marktkonformen Demokratie. Varoufakis kämpft gegen die Dominanz des ökonomischen Prinzips.

Deutschland steht bei vielen Linken im Ruf, ein neokolonialistisches Imperium zu sein, das sich kraft seiner Wirtschaftsmacht ein Europa nach den eigenen Vorstellungen und Träumen baut. Bei Angela Merkel ist das vor allem ein wettbewerbsfähiges Europa. „Wenn du im Traum eines anderen gefangen bist, dann bist du aufgeschmissen“, schrieb der Philosoph Gilles Deleuze. Der linke Intellektuelle Slavoj Žižek hat ihn jüngst mit diesem Satz zitiert, bezogen auf Merkels europäischen Traum. Viele Griechen, aber auch andere Südeuropäer haben derzeit das Gefühl, darin festzustecken. Varoufakis soll sie da herausholen.

Und er soll sie vor den undurchschaubaren, aber machtvollen Apparaten bewahren. Die „Troika“ war lange das Symbol dafür. Varoufakis hat bei anderer Gelegenheit erzählt, dass er sich geradezu beschmutzt fühlte, wenn die Troika in Athen aufgetaucht war, dass er sich Regen wünschte, damit sein Land wieder sauber würde. Die linke Erzählung, die sich zur Troika aufgebaut hat, ist die vom Einreiten und Diktieren. Varoufakis hat an dieser Erzählung gern mitgesponnen.

Die Figur, die er am schlimmsten findet, ist nicht die IWF-Chefin Christine Lagarde, ist nicht der Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Es ist: Sigmar Gabriel, deutscher Wirtschaftsminister und Chef der SPD. Es ist ein altes Problem der Linken, das sie sich gern aufspaltet und zer-fleischt, meistens dann, wenn sie mitregiert, wenn die pragmatischen Linken von den Utopien Abstand nehmen, um den Alltag zu meistern. So macht es Gabriel, so macht es der französische Präsident Hollande, so macht es der italienische Ministerpräsident Renzi.

Sie folgen Merkel auf ihrem Kurs und ziehen damit besondere Verachtung in ihrem Lager auf sich. Auch Tsipras zählt nun schon zum verachteten Establishment, seitdem er versucht, das Reformpaket umzusetzen, während Varoufakis durch seinen Rücktritt halbwegs sauber dasteht.

Damit erwarb er sich die Glaubwürdigkeit, um weiterhin für linke Utopien stehen zu können. Den lupenreinen Sozialismus hat er in seiner Zeit als Finanzminister allerdings auch nicht vertreten. Die Syriza-Regierung traute sich nicht, an die Vermögen der Reichen entschieden ranzugehen, obwohl IWF-Chefin Lagarde schon 2010 eine Liste mit den Namen jener Griechen geschickt hatte, die ihre Millionen und Milliarden im Ausland bunkern.

So lustig und interessant Varoufakis’ Erzählungen aus Kriseneuropa sind, er hat es jedenfalls nicht geschafft, irgendetwas für seine Griechen zu erreichen. Er ist auch ein gescheiterter Politiker.

Was wird er jetzt tun? An eine berühmte amerikanische Universität gehen und seine Berühmtheit versilbern? Nein, sagt Varoufakis, er habe versprochen, dass er bei seinem Volk bleiben werde. Er kündigt an, eine europäische „Allianz“ gründen zu wollen, keine Partei, ein Sammelbecken für alle, die wirklich europäisch denken und die Demokratie in Europa „vitalisie-ren“ wollten. Auch Konservative seien ihm willkommen, selbst Mitglieder von Merkels CDU. Seine Sorge sei, dass Rechtspopulisten wie Marine Le Pen vom Front National die Überhand gewinnen.

Seine Gegner hätten ihn bekämpft, weil er ein radikaler Linker, ein Grieche sei, aber sie hätten übersehen, dass er ein wahrer Europäer sei. Und darum gehe es jetzt: die wahren Europäer zu vereinen, damit Europa nicht in die Hände von Anti-Europäern falle.

Demnächst will er Oskar Lafontaine treffen. Er habe mit ihm einiges zu besprechen, Varoufakis lässt aber offen, ob er die Allianz mit Lafontaine gründen will.

Auf jeden Fall wird er weiter Bücher schreiben. Das „Handelsblatt“ schlug schon vor, er solle die Erlöse an einen Rettungsfonds für Griechenland überweisen. In Deutschland erscheint demnächst „Time for Change – Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre“ (Hanser Verlag).

Darin bemüht Varoufakis den Hollywoodfilm „Matrix“ sowie die roten und blauen Pillen, um zu erklären, dass im Kapitalismus nicht nur ein paar Dinge falsch laufen, sondern fast alles. Es ist für ihn keine Frage von ein paar Milliarden Euro mehr oder weniger, sondern eine des Systems.

Die Wahrheit, schreibt Varoufakis in seinem Buch, werde durch den Finanzkapitalismus auf immer trickreichere und schamlosere Art verdeckt: „Wir rennen wie Hamster in einem Rad, das sich immer schneller dreht, aber uns nirgendwohin bringt“. Der moderne Sündenfall, doziert Varoufakis, setze mit dem Ende des Feudalismus ein. Die Gesetze des Marktes eroberten den Alltag, der Tauschwert verdränge immer mehr den Lebenswert, jenen humanistischen Kern, der Menschen Dinge aus einer sittlichen und sozialen Selbstverständlichkeit heraus tun lässt und nicht bloß aus materiellen Interessen und Zwängen.

Stell dir vor, so erklärt er seiner Tochter, es ist ein schöner Sommerabend auf Ägina: Du sitzt auf unserer Veranda und schaust auf die rote Sonne, die im Meer versinkt. Irgendwann kommt Kapitän Kostas. Er ist alt, hat Rheuma, seine Ankerkette ist gerissen. Er bittet dich, ob du ins Wasser springen, hinabtauchen und eine neue Schnur einfädeln kannst. Du tust es gern und fühlst dich gut. Wie viel weniger Freude würdest du fühlen, wenn du von Kostas fünf Euro verlangt hättest, damit du ins Wasser springst?

Sehr viel weniger, meint Varoufakis. Trotzdem würden jene Fünf-Euro-Verlockungen heute alle kapitalistischen Gesellschaften bestimmen. Lebenswelten, in denen der Zynismus gesiegt habe und jener Aphorismus Oscar Wildes zu einer daseinssteuernden Losung geworden ist, wonach die meisten Dinge keinen Wert mehr hätten, sondern nur noch einen Preis.

Kapitalismuskritik dieser Art nimmt seit Jean-Jacques Rousseau und Karl Marx einen beachtlichen Raum im abendländischen Diskurs ein, und sicherlich gibt es vom Verkauf toxischer Bankprodukte bis zum hemmungslos vor sich hin wütenden Massenkonsum einiges, was bedenkenswert ist. Bizarr wird es jedoch, wenn der Kritiker sich mit einem Revolutionär aus einem Hollywood-Film wie „Matrix“ vergleicht und seine Rolle so definiert, dass nur Heroen dieses verrottete Wahnsystem durchbrechen können. Varoufakis, ein Superheld oder gleich ein Halbgott? Jedenfalls einer, der den finsteren Mächten des Kapitals – und sie sind bei ihm durchweg alle pechschwarz – den heiligen Krieg erklärt. Ein globalisierter Rebell, der gegen die Globalisierung zu Felde zieht.

Die zwei Stunden sind bald um, noch eine Frage zum Motorrad. Warum ist er auch als Finanzminister immer noch Motorrad gefahren? Gegenfrage: Warum hätte er aufhören sollen? Antwort: In Deutschland würden Minister nicht einmal Auto fahren. Was für ein trauriger Ort, ruft Varoufakis. Er wollte vorher nicht über Griechen und Deutsche reden, über seltsame Griechen, seltsame Deutsche, er finde, dass solche Ansätze nur zu Stereotypen führten. Aber diesen Unterschied findet er dann doch interessant.

Das Motorrad sei während seiner Zeit als Minister sein einziges Vergnügen gewesen. Den ganzen Tag lang Meetings, Stress, nachts Schlafentzug, da wurde das Motorrad zur Hoffnung. Dem Verkehr davonfahren, niemand mehr im Rück-SPIEGEL, eine Stunde geistiger Klarheit. Wieder ein bisschen Poesie. Von deutschen Ministern hört man sie nicht.

Das Gespräch ist zu Ende, aber eine Sache muss noch angesprochen werden. Es gibt einen Unsichtbaren in dieser Wohnung, ein Gespenst, das sich nicht zeigen will.

Der Weg zu diesem Gespräch war nicht ganz leicht. Der SPIEGEL und Yanis Varoufakis pflegten nicht gerade das, was man eine harmonische Beziehung nennt. Ein erstes Interview in Berlin kurz nach Varoufakis’ Ernennung zum Finanzminister endete mit dessen Verstimmung.

Varoufakis wurde laut, er ging ohne Handschlag. Einen Mitarbeiter des SPIEGEL, der Varoufakis später im Flugzeug von Athen nach Brüssel ansprach, beschimpfte der Finanzminister als „son of a bitch“ – als Hurensohn. Weitere Bemühungen um ein Interview lehnte Varoufakis mit dem Worten ab, er werde nie mehr in seinem Leben mit dem SPIEGEL sprechen.

Er hat es sich anders überlegt. Es gab einen Interviewtermin für den Dienstag dieser Woche, 16 Uhr. Zwei Stunden. Anderthalb Stunden vor dem Gespräch trifft eine SMS seiner Assistentin ein: „Es tut mir sehr leid, aber wir müssen das Interview verschieben, weil ein wichtiges Meeting aufgetaucht ist, das Mr. Varoufakis besuchen muss, und ich weiß nicht, wann es endet. Auch morgen wird er den ganzen Tag im Parlament sein.“

Als der SPIEGEL Redakteur erwidert, man sei gern bereit, das Gespräch nach dem Meeting zu machen, notfalls um drei Uhr in der Nacht, sagt die Assistentin, das gehe nicht. Dann bricht die Leitung ab. Später teilt die Assistentin mit, dass Varoufakis gerade ein „eher ideologisches und politisches Gespräch“ mit einem Redakteur des „Stern“ geführt habe. Der hat, darf man annehmen, kein Interesse daran, dass der Artikel des SPIEGEL vor dem „Stern“ erscheint. Der Kollege, so stellt sich heraus, ist praktischerweise für mehrere Nächte in die Wohnung von Varoufakis gezogen. Mehr Nähe geht nicht.

Mails wechseln hin und her zwischen Varoufakis’ Assistentin und dem SPIEGEL, dann wird ein Termin für den Donnerstag vereinbart. Varoufakis bestätigt ihn persönlich: „Entspannt euch in der Zwischenzeit im sonnigen Athen.“ Danke, gern.

Beim Gespräch am Donnerstag zeigt er sich versöhnlich und bleibt auch in der Konfrontation gelassen. Dann passiert etwas Merkwürdiges. Als einer der SPIEGEL Redakteure kurz das Wohnzimmer verlässt, sieht er im Flur einen Mann davonhuschen, den Kollegen vom „Stern“. Er hatte sich in der Nähe der Tür aufgehalten. Wollte er mithören, wie der SPIEGEL ein Gespräch führt?

Frage an Yanis Varoufakis? Ist ein Mann vom „Stern“ in der Wohnung? Nein, es sei einer da gewesen, aber der sei jetzt weg. Aber er ist noch da, er wurde gesehen. Varoufakis sagt, es könne sein, dass der Mann inzwischen unbemerkt zurückgekommen sei.

Rote Pillen? Vielleicht war es doch eine blaue. Man versteht jedenfalls, dass es nicht ganz leicht ist, mit Männern wie Yanis Varoufakis zu verhandeln.