Karl Nolle, MdL

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Seite 4, 03.05.2017

Die späte Trockenlegung des Sachsensumpfs

 
Zehn Jahre nach der vermeintlichen Affäre um ein kriminelles Netzwerk der Leipziger Eliten wird zwei Angeklagten die Verfolgung Unschuldiger vorgeworfen.

DRESDEN, 2. Mai Fast zehn Jahre ist es her, dass Sachsen von einer nahezu unglaublichen Affäre erschüttert wurde. Ein kriminelles Netzwerk aus den höchsten Kreisen von Politik, Polizei, Justiz und Wirtschaft sollte überwiegend in Leipzig schwerste Straftaten begangen und sich dabei gegenseitig gedeckt haben, so lautete kurz zusammengefasst die Affäre, die als "Sachsensumpf" damals weit über die Grenzen des Freistaats hinaus Schlagzeilen machte. In der anschließenden jahrelangen juristischen sowie politischen Aufarbeitung des Falls blieb von den Anschuldigungen allerdings außer Ruf Schädigungen aller daran Beteiligter so gut wie nichts übrig.

Trockengelegt ist der 2007 an die Öffentlichkeit gelangte Sumpf damit noch nicht, nach wie vor beschäftigt sich die Justiz mit Einzelheiten. Seit Dienstag stehen erstmals die beiden Hauptquellen, der einstige Leipziger Kriminalkommissar Georg W. und die ehemalige Referentin des Landesamtes für Verfassungsschutz Simone H. vor Gericht, was der ganzen Affäre eine weitere absurde Wendung gibt. Das Landgericht Dresden sah sich erst jetzt, im Frühjahr 2017, zur Hauptverhandlung in der Lage, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft Dresden immerhin schon 2010 Anklage erhoben hatte, wobei die den Angeklagten zur Last gelegten Taten damals auch schon vier Jahre zurücklagen. Der Vorsitzende Richter erklärte die Verzögerung am Dienstag mit Überlastung sowie Richterwechseln und räumte auch die Verjährung einzelner Tatbestände ein.

Geblieben sind zwei Vorwürfe. Danach soll Simone H. Unschuldige verfolgt und Georg W. Beihilfe dazu geleistet haben, darüber hinaus sollen beide bei ihrer Zeugenvernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Sächsischen Landtages, wo sie ihre Erkenntnisse abermals vortrugen, uneidlich falsch ausgesagt haben. Die Staatsanwaltschaft verlas am Dienstag mehr als eine Stunde lang die Anklage, in der sie noch einmal bis zum Ursprung der Affäre vor elf Jahren zurückging. Damals leitete die Angeklagte H. das Referat zur Beobachtung der organisierten Kriminalität beim Landesamt für Verfassungsschutz. Dabei soll H. laut Anklage auf "äußerst vage" Informationen über kriminelle Verbindungen zwischen Justiz, Rotlicht und Wirtschaft in Leipzig gestoßen sein, die, so habe sie gefürchtet, wohl nicht mehr verwertbar gewesen wären, als der Landesverfassungsschutz bald darauf seine Zuständigkeit für die organisierte Kriminalität wieder verlor.

H. soll daraufhin binnen kürzester Zeit versucht haben, ihre Informationen auch mit Hilfe des Angeklagten W. zu erhärten, den sie als anonyme Quelle führte. W. war in den neunziger Jahren als Kommissar für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität in Leipzig zuständig und dabei auch auf zwielichtige Immobiliengeschäfte, Kinderprostitution und Mordversuch gestoßen. Die Taten sind zum Teil belegt und geahndet worden. Nicht belegt wurde hingegen, dass sie Bestandteil eines kriminellen Netzwerkes waren, das bis in höchste Leipziger Kreise reichte. 2002 war W. jedoch wegen Unregelmäßigkeiten vom Dienst suspendiert worden, seine Einheit wurde aufgelöst. Zwar wurde W. Jahre später freigesprochen, doch habe er sich nun an der Leipziger Justiz für sein Karriereende rächen wollen, so die Staatsanwaltschaft. Deshalb habe er gegenüber H. gezielt Richter und Staatsanwälte aus Leipzig schwerer Straftaten wie Bestechlichkeit, Strafvereitelung im Amt und sexuellen Missbrauchs von Kindern bezichtigt.

H. wiederum, die frühere Referentin des sächsischen Verfassungsschutzes, nahm all das in ihr Dossier auf, obwohl sie gewusst habe, dass die Informationen nur auf Gerüchten und Vermutungen beruhten und aus lediglich einer Quelle stammten. Auch das habe sie verschleiert, als sie im Frühjahr 2007 in einem "Behördenzeugnis" die Generalstaatsanwaltschaft über das angeblich kriminelle Netzwerk in Leipzig in Kenntnis setzte. "Ihr war bewusst, dass es um ehrverletzende Behauptungen ging und die Belasteten die Taten womöglich nie begangen hatten", so der Staatsanwalt. Tatsächlich seien sämtliche Vorwürfe nicht beweisbar gewesen und die Unschuld aller Beschuldigten inzwischen erwiesen.

Die Verteidigung bezeichnete die Anklage als "hammerhart" und wies die Vorwürfe am Dienstag entschieden zurück. Die Anwälte von H. sagten, ihre Mandantin habe schon deshalb keine Unschuldigen verfolgen können, weil sie als Mitarbeiterin des Geheimdienstes gar nicht Teil der Strafverfolgung sei; der Vorwurf könne lediglich gegenüber Polizisten, Richtern und Staatsanwälten erhoben werden. Die Anklage missachte daher die verfassungsrechtlich gebotene Trennung zwischen Verfassungsschutz und Polizei. H. habe lediglich ihre Arbeit gemacht, zu der auch das Dossier zähle, dass sie im Übrigen auf Weisung des damaligen Präsidenten des Landesamtes für Verfassungsschutz angefertigt habe. Es sei vielmehr Sache der Staatsanwaltschaft gewesen, aus diesen Informationen etwas zu machen und selbständig zu ermitteln. Stattdessen habe die Behörde damals ausschließlich unter "unmittelbarer Bezugnahme" auf das Dossier Anklage erhoben, ohne die zugrundeliegenden Informationen überhaupt zu prüfen. Deshalb könne dieses Verfahren, sofern es nicht eingestellt werde, für H. nur mit einem Freispruch enden.

Auch die Verteidiger des Angeklagten W. forderten, den Prozess wegen überlanger rechtsstaatswidriger Verfahrensdauer einzustellen, zumal weder die Länge des Prozesses noch ein Urteil prognostizierbar seien. Bisher hat das Gericht Verhandlungstermine bis Ende des Jahres festgelegt. Schwierig ist das Verfahren zudem, weil den Beteiligten die Akten des Landesamtes für Verfassungsschutz bisher nur in geschwärzter Form zu Verfügung stehen. Die Verteidiger bemängelten, dass Zeugenvernehmungen so zwangsläufig "Stückwerk" blieben.

Stefan Locke