Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, Seite 6, 03.05.2017
Den großen Fisch an der Angel
Zehn Jahre nach der Sachsensumpf-Affäre stehen zwei Beamte vor Gericht. Die Ankläger betreten juristisches Neuland.
Die Geschichte, die schon oft erzählt worden ist, klingt immer noch wie aus einer anderen Welt. Es geht um Geheimdienstdossiers, Staatsanwälte mit Rotlichtkontakten, angebliche Immobilienschiebereien und Liebesdienste aller Art. In schlechten Krimis kommt so etwas ständig vor. Es ist elf, zwölf Jahre her, dass sich sächsische Verfassungsschützer tagein, tagaus mit diesen Dingen beschäftigt haben. Sie sollten in Ermangelung anderer Aufgaben im Auftrag der Landesregierung die Mafia beobachten - eine Entscheidung mit gravierenden Folgen. Herausgekommen ist bei der Suche nicht viel Verwertbares, abgesehen von einem politischen Skandal, der jahrelang Landtag und Justiz beschäftigt hat. Seit Dienstag findet die Affäre eine Fortsetzung vor dem Landgericht Dresden.
Auf der Anklagebank sitzen zwei Beamte: die ehemalige Referatsleiterin für Organisierte Kriminalität im Landesamt für Verfassungsschutz, Simone H., sowie der inzwischen pensionierte Polizist Georg W. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden wirft ihnen Verfolgung Unschuldiger sowie Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages vor. Sie sollen mehrere Personen verfolgt haben, obwohl gegen sie nichts vorlag. Eines der Verfolgungsopfer ist heute Gerichtspräsident, ein anderes inzwischen pensionierter Richter. Die Vorwürfe, Kontakte zum Leipziger Rotlichtmilieu gehabt zu haben, seien konstruiert worden, um den Juristen zu schaden. Tiefe Abneigung und Rache seien für Georg W. das Motiv gewesen. Simone H. habe geglaubt, mit diesem Fall "den ganz großen Fisch an der Angel" zu haben, formulierte ihr Verteidiger Thomas Giesen die Beweggründe seiner Mandantin in einem Vorgespräch mit dem Gericht.
Knapp eine Stunde benötigte Oberstaatsanwalt Jürgen Schmidt, um die Anklage vorzutragen. Im Kern geht es laut den Ermittlungen darum, dass die Verfassungsschützerin Gerüchte und Hinweise zu einem Geheimdienstdossier aufgebauscht haben soll. Ihre angeblichen nachrichtendienstlichen Quellen habe es nicht gegeben. Stattdessen soll ihr der Polizist W. alte Geschichten aufgetischt haben. Um nicht aufzufliegen, habe er sich Quellenschutz zusichern lassen.
Schmidt zitierte längere Passagen aus dem Dossier, dass all die Gerüchte auflistet, die in den 1990er-Jahren in Leipzig kursierten: Wer mit wem in den Urlaub flog, wer Kontakte zu einer Boulevardjournalistin hatte und wer im Rotlichtmilieu verkehrte. Vage Hinweise über Kinderprostitution tauchen ebenfalls immer wieder auf. Beweise dafür wurden nie gefunden.
Der Prozess ist nicht nur wegen der politischen Hintergründe interessant. Auch juristisch hat er einiges zu bieten. Noch nie habe sich ein Verfassungsschützer wegen Verfolgung Unschuldiger vor Gericht verantworten müssen, hieß es gestern.
Die Verteidiger beantragten die Einstellung des Verfahrens. Rechtsanwältin Lina Addicks sagte, die Vorfälle lägen mehr als zehn Jahre zurück. Die Anklage sei sechseinhalb Jahre alt. Die überlange Verfahrensdauer sei angesichts der persönlichen Drucksituation unzumutbar für die Angeklagten. Eine Kompensation durch eine milde Strafe sei nicht mehr möglich.
Addicks forderte zudem die Beiziehung sämtlicher ungeschwärzter Verfassungsschutzakten zu diesem Fallkomplex. Auch die Unterlagen der beiden Untersuchungsausschüsse des Landtages müsse das Gericht anfordern. Rechtsanwalt Thomas Giesen sagte, Simone H. könne nicht wegen Verfolgung Unschuldiger bestraft werden, weil das Gesetz nicht für Verfassungsschutzbeamte gelte. Der Verfassungsschutz sei zwar damals verpflichtet gewesen, seine Erkenntnisse im Bereich der Organisierten Kriminalität weiterzuleiten, sei aber nicht mit der Staatsanwaltschaft gleichzusetzen. Strafverfolgung sei gar nicht ihre Aufgabe gewesen.
Simone H. kritisierte, sie könne sich nicht verteidigen, weil das Landesamt ihr eine uneingeschränkte Aussagegenehmigung verweigere. Sie dürfe weder nachrichtendienstliche Quellen noch Ex-Kollegen namentlich nennen. Das sei eine "perfide Gängelung". Eine Klage in dieser Sache vor dem Verwaltungsgericht habe sie verloren. Ihr Dienstherr, die Landesregierung und das Innenministerium, hätten sie öffentlich als inkompetente, durchgeknallte und übermotivierte Beamtin dargestellt und "aus Staatsräson hingerichtet".
Das Gericht will bis zum nächsten Verhandlungstag am Montag über die Anträge der Verteidiger entscheiden.
KARIN SCHLOTTMANN