Karl Nolle, MdL
SPIEGEL ONLINE, 22.01.2018
Volkspartei AfD - SPD auf Weg in GroKo
Eine Kolumne von Jakob Augstein
Das Ja zur Großen Koalition war ein Nein zur Zukunft der SPD. Die deutsche Sozialdemokratie hat fertig. Früher war sie die Volkspartei des kleinen Mannes. Den Platz wird die AfD einnehmen.
Kadavergehorsam bedeutet, dass man sich von seinen Oberen führen lässt, als sei man ein toter Körper. Das kann man den Delegierten des SPD-Sonderparteitags nicht vorwerfen: Sie haben einen ganzen Tag lang ordentlich gezappelt, und fast 44 Prozent haben sogar gegen ihre Oberen gestimmt.
Aber Kadavergehorsam bedeutet auch, brav ins sichere Ende zu marschieren. Und dazu hat sich die SPD nun bereit erklärt. Vor ihrem Sonderparteitag stand die Partei am Abgrund. Nun ist sie einen Schritt weiter.
Die Aufnahme der Koalitionsverhandlungen über eine neue Große Koalition markiert den Anfang vom Ende der SPD als Volkspartei. Man muss kein Zeitreisender sein, um zu wissen: Wenn es zu dieser Großen Koalition kommt, wird sie der SPD endgültig den Rest geben.
Die Ära der sozialdemokratischen Volkspartei SPD ist vorüber. Es ist eine Zeitenwende. Der Gewinner ist die AfD. Sie wird die SPD als Volkspartei des kleinen Mannes ablösen.
Man muss sich einmal die Reden der beiden SPD-Protagonisten anhören! Die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles und der Parteichef Martin Schulz haben, ohne es überhaupt zu merken, die ganze hoffnungslose Orientierungslosigkeit der SPD entlarvt.
Ach, Andrea
Nahles wird in vielen Kommentaren für ihren Einsatz auf und vor dem Parteitag gelobt. Parteichef Schulz sagte: "Andrea, du hast gekämpft wie eine Löwin." In jener Halle in Bonn hat sie aber vor allem geschrien. Sie hat die Delegierten angebrüllt, dass Neuwahlen idiotisch seien, weil die SPD mit einem Programm antreten müsste, das im Wesentlichen mit dem Sondierungsergebnis identisch sei. Ach, Andrea.
Wo bleibt denn da die Fantasie? Vermögensteuer, Erbschaftsteuer, Spitzensteuersatz, Zumutbarkeitsklausel bei Hartz IV, Mieten, Mindestlohn, prekäre Beschäftigungsverhältnisse - es gibt genügend Aufgaben für eine sozialdemokratische Politik, die bei den Menschen ankommt. Die Selbstverzwergung beginnt bei den selbstauferlegten Denkverboten.
Offenbar hat die SPD die Große Koalition inzwischen schon in ihren Genen. Es ist so traurig. Wenn es zu Neuwahlen kommen sollte, würden die Bürger der SPD "den Vogel zeigen", sagte Nahles. Oskar Lafontaine schrieb dazu nachher: "Sie vergisst: Die Wähler zeigen der neoliberal gewendeten SPD seit 20 Jahren den Vogel."
Sterben lernen
Martin Schulz hat in Bonn erzählt, er habe mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron telefoniert: "Gestern hat mich Macron angerufen!" sagte Schulz, und Macron wünsche sich sehr, dass die SPD in eine Große Koalition gehe.
Nun wirkt der Bezug auf äußere Autoritäten immer ein bisschen hilflos. Aber Schulz bemerkte gar nicht, wie absurd gerade diese gut gemeinten Ratschläge waren: In Frankreich ist die Sozialdemokratie mehr oder weniger ausgelöscht. Und gerade Macron hat dazu beigetragen.
Wenn Macron anruft, sollte Schulz entsetzt auflegen: Von den Franzosen lernen heißt für die Sozialdemokratie sterben lernen. In Frankreich sind die Sozialdemokraten einen langsamen Tod gestorben, während aus dem rechten Rand eine neue Volkspartei entstand: der Front National.
In Deutschland hält sich die AfD für das gleiche Kunststück bereit. Die rechte Frontfrau Alice Weidel frohlockte am Wochenende: "Nur noch wenige Prozentpunkte trennen AfD und SPD voneinander, und das hat seinen Grund. Wir lösen die SPD als Volkspartei ab, weil wir die Menschen und das Land im Blick haben, statt unser Handeln irgendeiner Ideologie unterzuordnen." Das ist natürlich Unsinn - denn der rechte Sermon von Blut und Boden ist nichts als Ideologie. Aber es ist eine wirksame Ideologie.
Der SPIEGEL hat gerade in einer großen Titelgeschichte das Dilemma aller linken Politik beschrieben: Die neue Bruchlinie verläuft zwischen den Gewinnermilieus des neuen Kapitalismus, die in der ganzen Welt zu Hause sind - und den alten Mittelschichten, den Handwerkern und kleinen Angestellten, die sich abgeschnitten fühlen.
SPD - und Linkspartei - erreichen beide Gruppen nicht mehr wirklich. Die Globalisierungsglücklichen wählen liberal oder grün. Die Unglücklichen ziehen sich zurück oder fallen der AfD anheim. Bei der Bundestagswahl hat die AfD vor allem in den prekären Vierteln gewonnen: bei Hilfsarbeitern, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern.
Intellektuelle Spielereien
Der frühere SPD-Vorsitzende und geschäftsführende Außenminister Sigmar Gabriel wurde sehr gescholten, als er im SPIEGEL schrieb: Sozialdemokraten und Progressive hätten sich kulturell "oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten. Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit." Da tobt eine Debatte zwischen Liberalismus und Identitätspolitik. Und die aufgeklärten Eliten maulen, man solle das eine nicht gegen das andere ausspielen.
Aber das sind so intellektuelle Spielereien, die helfen den Leuten, die sich von der Globalisierung bedroht fühlen, genauso wenig wie die "Ehe für alle".
Nur mal nebenbei: Oxfam hat an diesem Montag mitgeteilt, dass Deutschland bei der Vermögensverteilung nach Litauen die zweithöchste soziale Ungleichheit in der Eurozone aufweise. Das Vermögen des reichsten Prozents der deutschen Bevölkerung sei zuletzt um 22 Prozent, das der ärmeren Hälfte nur um drei Prozent gewachsen. Ein Arbeiter müsse im Schnitt 157 Jahre arbeiten, um das Jahreseinkommen eines Dax-Chefs zu erzielen.
Oxfam nennt Deutschland ein "Ungleichland".