Karl Nolle, MdL
Internationale Politik und Gesellschaft, 08.08.2018
Peter Brand: Wir brauchen eine linke Ökumene
Plädoyer für eine Sammlungsbewegung links der Mitte.
Von Peter Brandt
In der Optik der AfD und rechtskonservativer Presseorgane wird das heutige Deutschland von linken „Achtundsechzigern“ oder in deren Geist beherrscht. Diese Betrachtung findet ihren halbwahren Kern darin, dass sie die soziokulturelle Dimension in den Mittelpunkt rückt. Die stetige Auflösung autoritärer Verhaltensmustermuster seit den frühen 60er Jahren, der Abbau obrigkeitsstaatlicher Überhänge, der Individualisierungsschub einschließlich einer permissiven Tendenz in den Umgangs- und Lebensformen, die Liberalisierung von Staat und Gesellschaft - das sind von der angetretenen Revolte beschleunigte Begleiterscheinungen des Konsumkapitalismus, wie er um 1960 in den hochentwickelten Industrieländern des Westens eine gewisse Reife erreicht hatte. In der Perspektiven der Rechten bedeutete alles das die Durchsetzung „linker“ Prinzipien – und dieses nicht allein in Deutschland.
Die damit angesprochenen liberalisierenden Resultate des sozialen Wandels sind, gelegentlich ins Groteske gesteigert, inzwischen von einflussreichen Fraktionen des Mitte-links- und linken Spektrums zu den Hauptgegenständen der politischen Auseinandersetzung gemacht worden. Dagegen geriet die soziale Frage - neben der Durchsetzung und stetigen Erweiterung von Demokratie im 19. Jahrhundert der Ausgangspunkt und eigentliche Gegenstand eines linken Ansatzes - zunehmend an den Rand. Wie zum Beweis dieses Befundes feierten Bundestagsabgeordnete der SPD, der Grünen und der Partei Die Linke die im Vorjahr erfolgte, uneingeschränkte Möglichkeit auch für Homosexuelle zu heiraten - wogegen nichts zu sagen ist - unter der merkwürdigen Bezeichnung „Ehe für alle“ als epochalen Fortschritt. Nur: Da zeichnete sich die Niederlage der rot-rotgrünen Gesamtlinken in der Bundestagswahl bereits ab. Man hätte die bis zum September 2017 noch bestehende linke Parlamentsmehrheit auch nutzen können, um z.B. die höchst populäre solidarische Grundrente durchzusetzen. Es ist eine Sache, offenkundige Diskriminierungen wie 1976 den „Schwulenparagraphen“ 175 zu beseitigen, eine andere, der erdrückenden Mehrheit der „Normalos“ dieses als politische Großtat zu präsentieren.
Der Adressat linker Politik war bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wie selbstverständlich das „arbeitende Volk in Stadt und Land“ wie im Görlitzer Programm der SPD von 1921 und ganz ähnlich im Wiedergründungsaufruf der KPD 1945 formuliert. Nicht von Ungefähr: Über neun Zehntel der Erwerbsbevölkerung waren und sind abhängig Beschäftigte, der Rest setzt sich überwiegend aus kleinen Selbstständigen zusammen. In einer solchen Situation sollen, ja müssen linke Parteien Volksparteien sein. Dies aber nicht in dem Sinne, dass der Multimillionär den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung seiner Interessen erheben darf wie der nicht-privilegierte Arbeitnehmer.Die Sozialdemokratie als die in den meisten europäischen Ländern ehedem größte Formation links der Mitte hat sich von ihrer Klientel entfernt, indem sie die Hinwendung zu den Rand- bzw. Sondergruppen und deren Themen kombiniert hat mit einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Hinnahme der vom Finanzmarkt getriebenen, neoliberalen Globalisierung als unumgänglich zu erkennen meinte.
Die Sozialdemokratie hat sich von ihrer Klientel entfernt, indem sie die Hinwendung zu den Rand- bzw. Sondergruppen kombiniert hat mit einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Hinnahme der vom Finanzmarkt getriebenen, neoliberalen Globalisierung als unumgänglich zu erkennen meinte.
Den Anfang machte Tony Blairs New Labour; in Deutschland lauteten die Stichworte „Agenda 2010“ und „Hartz IV“. Die damit verbundenen Maßnahmen beseitigten weder den spezifischen deutschen, korporativ geprägten „Realtypus von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft“ (W. Abelshauser) im Allgemeinen, noch den hierzulande seit den 1880er Jahren installierten und seit den 1950er Jahren zu einer neuen Qualität ausgebauten Sozialstaat im Besonderen. Doch sie beschädigten und reduzierten ihn aber im Hinblick auf die soziale Absicherung. Das ökonomische Wachstum Deutschlands nach der Weltwirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09 ist, wie schon früher durch eine Exportoffensive zuwege gebracht worden, zum erheblichen Teil ermöglicht durch Lohndumping. Der derzeitige, relativ hohe Beschäftigungsstand hierzulande ist großenteils erkauft durch die Zunahme von Teilzeit- bzw. prekärer Beschäftigung und wird nicht zufällig begleitet von gravierender Erwerbslosigkeit im Süden des Kontinents.
Entfesselung des Marktkapitalismus
Die Entfesselung der Finanzmärkte seit den späten 1970er Jahren war nicht zuletzt eine politische Entscheidung, zuerst der konservativen Regierungen Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA, dann begünstigt durch die neuen Informationstechnologien. Die Führungsschicht der europäischen Sozialdemokratie hat sich zu einem späteren Zeitpunkt diesem Prozess als vermeintlich unaufhaltsam ergeben, ihn in Perioden ihrer Mitregierung teilweise sogar gefördert, insgesamt eine mildere, sozial mehr abgefederte Variante zu verwirklichen gesucht, wie man etwa in den bundesdeutschen Großen Koalitionen von 2005, 2013 und 2017 beobachten kann. Das keineswegs wirkungslose Regierungshandeln der SPD konnte aber die Entfremdung von einer großen Zahl ihrer Anhänger nicht verhindern. Weshalb? Weil der Trend zu sozialer Polarisierung, sprich: zu erneut rapide wachsender Ungleichheit, nicht gebrochen worden ist, sondern die Vermögenskonzentration – je höher in der sozialen Pyramide, desto krasser – weiter zunimmt. Und das, während etwa 40 Prozent der Bevölkerung seit den 1990er Jahren nicht nur relative, sondern sogar reale Einbußen ihres Einkommens erleben mussten.
Die ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Westeuropa deshalb eine günstige Periode für die sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften, weil der Wiederaufbau und die folgende, kaum durch Rezessionen unterbrochene Boomphase Raum bot für einen längerfristigen Kompromiss (gewiss nicht konfliktfrei) zwischen Staat, Kapital und Arbeit – mit einer historisch einmaligen Steigerung des Lebensstandards auch der unteren Hälfte der Bevölkerung und einem Ausbau des Sozialstaats hin zu einer neuen Qualität. Die gleichzeitige Errichtung und Befestigung einer nichtkapitalistischen, vermeintlichen sozialistischen, diktatorischen Ordnung in Südosteuropa und im östlichen Mitteleuropa, namentlich im östlichen Teil Deutschlands, wirkte auf die breiten Schichten der Lohnabhängigen, auch auf die Kernschichten der Industriearbeiterschaft, wenig attraktiv, sogar eher abstoßend; indessen förderte der Systemkonflikt auf westlicher Seite die Bereitschaft der Oberklasse, den Lohnabhängigen Zugeständnisse zu machen, nicht nur solche materieller Art.
Die neoliberale Wende der Politik in der kapitalistischen Welt nach der internationalen Wirtschaftskrise von 1974/75, ausgelöst, aber nicht hauptsächlich verursacht durch eine deutliche Ölpreiserhöhung seitens des Kartells der OPEC-Länder, entsprang nicht reiner Willkür: Abnehmender Produktivitätszuwachs und die starke Position der Gewerkschaften brachten die Kapitalseite in eine Profitklemme. Die Fortsetzung des Modells regulierter Marktwirtschaft und avancierten Sozialstaats kollidierte mit den Grundprinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, so dass die Sozialdemokratie zunehmend vor die Alternative gestellt war, sich irgendwie anzupassen oder eine größere Konfliktbereitschaft zu entwickeln – ohne dass klar war, ob der bisherige Weg unter den veränderten Bedingungen überhaupt weiter gangbar sein würde, zumal die ökologischen Grenzen des Wachstums ins Bewusstsein zu treten begangen.
Damit ist das eine Grunddilemma der europäischen Sozialdemokratie beschrieben, in der die SPD mit ihren 20,5 % bei der letzten Bundestagswahl keineswegs am unteren Ende der Skala steht. Dabei haben sich die alten sozialmoralischen Milieus über Jahrzehnte weitgehend aufgelöst. Überhaupt ist die quantitative und gesellschaftsprägende Bedeutung der großindustriellen Arbeiterschaft deutlich kleiner geworden. Wo es diese weiterhin gibt, empfindet sie mehrheitlich keine besondere Hinneigung zur Sozialdemokratie mehr, deren Mitgliedschaft und, mehr noch, Funktionärskorps heute in hohem Maß von Hochschulabsolventen gestellt wird, analog zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und sogar deutlich verstärkt. Der Nachwuchs für leitende Funktionen wird inzwischen vorwiegend im Parteiapparat, in legislativen und exekutiven Hilfsdiensten politisch sozialisiert. Spezifisch ist immer noch ein hoher Anteil von sozialen Aufsteigern der ersten Generation in Führungspositionen, doch ohne dass die lebensweltliche Verbindung zu den Arbeitern und kleinen Angestellten dadurch aufrechterhalten worden wäre. Auch wenn die Klassenteilung der Gesellschaft „objektiv“ weiterbesteht und die nicht-privilegierten Arbeitnehmer die übergroße Mehrheit bilden und innerhalb dieser Großgruppe ein neues Dienstleistungsproletariat entstanden ist, sind die Klassenlagen komplizierter, vielfach auch widersprüchlicher geworden.
Weiter verkompliziert wurde die Szenerie durch neue Konfliktlinien, die neben die sozioökonomische bzw. gesellschaftspolitische getreten sind: um 1980 die zwischen aufstiegs- und wachstumsorientierten „Materialisten“ sowie auf Lebensqualität, individuelle Selbstbestimmung und Partizipation orientierten „Postmaterialisten“. Neuerdings zudem zwischen urbanen, gut ausgebildeten und mobilen „Kosmopoliten“ mit überdurchschnittlichem Einkommen sowie denjenigen, die eher zu den Verlierern der Globalisierung gehören, Schutz im Vertrauten suchen und Multikulturalismus ablehnen, den „Kommunitaristen“. So wie der Aufbruch der SPD um 1970 als Verbindung der traditionellen Facharbeiterschaft mit Sektoren des Öffentlichen Dienstes und der expandierenden akademischen Jugend Erfolg hatte, so müssten auch heute Kombinationen zuwege gebracht werden, die dann eine breite Koalition von Mitte und Unten (im sozialen Sinn) ermöglichen würden statt der liberal-konservativen Oben-Mitte-Koalition und dafür die genannten soziokulturellen Scheidelinien zu durchbrechen hätten.
Die Wahl von Martin Schulz zum Parteivorsitzenden und seine Ernennung zum Kanzlerkandidaten zu Beginn des Jahres 2017, verbunden mit dem Aufgreifen der Gerechtigkeitsfrage, bescherte der SPD vorübergehend ein als beinahe sensationell empfundenes Umfragehoch. Diejenigen, die sich nun für die SPD aussprachen, waren vorwiegend frühere, teilweise schon länger verlorene Anhänger. Die Euphorie brach zusammen und schlug in Ratlosigkeit und Pessimismus um, als die Gerechtigkeitsparole, von plausiblen Detailforderungen abgesehen, im Unbestimmten verblieb und der Kandidat sich von seinen Beratern gegen eigenes besseres Empfinden beinahe zu einem politischen Neutrum machen ließ.
Auffällig ist nicht nur der fast kontinuierliche Abstieg der SPD seit der Jahrtausendwende, eine prozentuale Halbierung bei Bundestagswahlen binnen 20 Jahren (ähnlich in der Mitgliederentwicklung), sondern auch die Tatsache, dass das rot-rot-grüne Lager von einer satten Mehrheit 1998 auf inzwischen ganze 38,6 Prozent zusammengeschmolzen ist. Eine entsprechende Regierungsbildung ist derzeit somit schon rechnerisch ausgeschlossen. Womit wir beim heutigen Rechtspopulismus wären, dem es, mit Ausnahmen vor allem in Griechenland und auf der Iberischen Halbinsel, gelungen ist, europaweit den sozialen und politischen Protest gegen die globalisierten Eliten sowie das internationale Finanzkapital und den von diesen Kräften bestimmten beschleunigten Wandel auf ihre Mühlen zu lenken. Die betreffenden Wählersegmente scheinen, um bei Deutschland zu bleiben, nicht nur für die SPD mittelfristig verloren. Auch Die Linke kann, anders als bis vor einigen Jahren zumindest in Ostdeutschland, dieses Protestpotential aktuell nicht mehr erreichen. Es widerstandslos der Rechten zu überlassen, wäre indessen die politische Kapitulation der Gesamtlinken schlechthin.
Gewiss artikuliert sich in der Wahl rechter oder ultrarechter Parteien nicht zuletzt eine simple Fremdenfeindlichkeit, die als solche keine Anknüpfungspunkte bietet, sondern bekämpft werden muss. Doch wäre es ebenso die Aufgabe der betreffenden Mitte-links- bzw. Linksparteien, ihre Wahlergebnisse im Hinblick auf die Verluste nach Rechtsaußen eingehend zu analysieren. Der fehlgeleitete Protest gegen eine wirtschaftsliberale Globalisierung und Europäisierung sollte nicht einfach als reaktionär abgetan, sondern daraufhin untersucht werden, welche materiellen und mentalen Probleme der Abgehängten und Erniedrigten sich darin ausdrücken. Eine undifferenzierte und unkritische Bejahung „Europas“ ist z.B. deshalb schwer zu vermitteln, weil es in erster Linie darum geht, welche Art Vereintes Europa mit welcher institutionellen Ordnung und welcher wirtschafts-, gesellschafts- und außenpolitischen Orientierung angestrebt werden soll: Schutz- und Gestaltungsraum oder Katalysator der marktkapitalistischen Globalisierung? Die Nation ist für die Mehrheit der Menschen überall auf der Welt weiterhin die primäre Bewusstseins-, Gefühls- und Kommunikationsgemeinschaft, die nicht im Gegensatz stehen muss zu einem immer engeren europäischen Verbund. Der Nationalstaat bleibt der bislang einzige gesicherte Rahmen für Rechtsstaat und Demokratie, auch wenn er sukzessive Kompetenzen an übernationale Einrichtungen abgegeben hat und möglicherweise weiter abgeben wird.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Globalisierung den Gestaltungsraum linker Politik eingeengt hat, so durch den internationalen Steuersenkungswettbewerb. Gerade hier wäre die EU gefordert. Und selbst auf nationalstaatlicher Ebene könnte wesentlich mehr zur Re-Regulierung der Wirtschaft, zur Aufrüstung des Sozialstaats und zur Umverteilung der Einkommen und Vermögen von oben nach unten geschehen als behauptet wird. Die neoliberale, kapitalfreundliche Politik der europäischen Institutionen und der Brüsseler Bürokratie sowie das (wenn auch inzwischen verkleinerte) Demokratiedefizit der EU muss thematisiert werden, anstatt es aus Furcht vor Nationalismus hinter wohlfeilen proeuropäischen Floskeln zu verbergen. Die Ablehnung der Zuwanderung nach Europa, namentlich nach Deutschland, aus dem globalen Süden wird vielfach als wichtigstes Motiv bei der Unterstützung rechtskonservativer, rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien angesehen. Es ist hier nicht der Ort, diese komplexe Problematik aufzufächern. Immerhin wäre es bei der Diskussion, auch innerhalb des linken bzw. Mittelinks-Spektrums, hilfreich, zwischen Flüchtlingen im engeren Sinn sowie Armutsflüchtlingen und Migranten aus anderen Motiven andererseits zu unterscheiden. Die Stimmungsmache von rechts gegen Asylsuchende und Einwanderer sowie deren Helfer und Unterstützer darf nicht mit systematischer Verharmlosung der damit verbundenen Schwierigkeiten und Missachtung der Verunsicherung ohnehin benachteiligter Einheimischer beantwortet werden. Denn sie könnten am Ende die Leidtragenden sein.
Es wäre die Aufgabe einer revitalisierten und volksverbundenen Linken, die Formel von der „Beseitigung der Fluchtursachen“ ins Zentrum der diesbezüglichen politischen Auseinandersetzung zu rücken. Dabei ginge es im Wesentlichen um die Realisierung der schon vor vier Jahrzehnten von der Nord-Süd-Kommission („Brandt-Kommission“) gemachten Vorschläge zur Beseitigung der Strukturmängel und Dysfunktionalitäten im Verhältnis der nördlichen zur südlichen Hemisphäre, die eine nachhaltige Entwicklung hemmen. Beseitigung! Nicht allein um die Reduzierung des krassesten Elends. Die Beziehungen der kapitalistischen Metropolen zur früher so genannten Dritten Welt sind auch viele Jahrzehnte nach Erreichen der staatlichen Unabhängigkeit von Abhängigkeits- und Ausbeutungsstrukturen gekennzeichnet. In den derzeitigen, äußerst blutigen kriegerischen Verwicklungen, die Massenflucht produzieren, sind die großen Militärmächte, vor allem die USA, in der Regel zumindest indirekt beteiligt. Zudem: Knapp dreißig Jahre nach Beendigung des alten Ost-West-Konflikts wird ein neuer, durchaus gefährlicher, finanzielle Mittel und Energien bindender Rüstungswettlauf in Gang gesetzt, hierzulande wie anderswo im Westen befeuert von einer hypermoralisch aufgeladenen Menschenrechtspropaganda, die die Lehren der Entspannungspolitik der 1960er bis 80er Jahre ignoriert. Dabei ist klar, dass die Linke sich nicht auf die heimische soziale Frage im engeren Sinn beschränken kann. Das gilt umso mehr, als die ökologische Krise von existentieller Art und letztlich nur global lösbar ist. Das ist inzwischen auch der Mehrheit der Bevölkerung bewusst geworden. Die fundamentalen Menschheitsprobleme werfen die Systemfrage auf, ohne dass wir das Ziel und die einzelnen Schritte der rettenden Transformation heute im Detail bestimmen könnten. Dass das Ostblock-System eines angeblich „real existierenden Sozialismus“ vor 1990 keine praktikable und humane Alternative war, ist nicht erst seit 1989 offenkundig und von kritischen Sozialsten, den Autor eingeschlossen, stets betont worden: Es wird entweder einen demokratischen Ausweg aus der Krise der Menschheit geben oder gar keinen. Das heißt aber nicht, dass der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sein wird.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Die drei Parteien, die in unterschiedlicher Intensität und Akzentuierung mit einer kritischen Haltung zum gesellschaftlichen Status Quo angetreten sind, haben sich zunehmend als unfähig erwiesen, dem Wunsch nach Veränderung und den damit verbundenen Erwartungen der Menschen Ausdruck zu verschaffen. Die Grünen haben sich weitgehend an den neoliberalen Mainstream angepasst und erweisen sich in der Außenpolitik, namentlich gegenüber Russland, eher als Scharfmacher im Sinne der Ideologie der „westlichen Wertegemeinschaft“. Und doch gibt es in der Mitgliedschaft und unter den Wählern der Grünen weiterhin eine nicht unbeträchtliche Strömung, die sich den ursprünglichen radikal-ökologischen, pazifistischen und basisdemokratischen Zielen der Partei, geläutert durch Erfahrung, verbunden fühlt und den längst verfestigten Kurs der Parteiführung nicht mitmachen will. Diese Strömung kommt zurzeit nicht zur Geltung. Die drei Parteien, die mit einer kritischen Haltung zum gesellschaftlichen Status Quo angetreten sind, haben sich zunehmend als unfähig erwiesen, dem Wunsch nach Veränderung und den damit verbundenen Erwartungen der Menschen Ausdruck zu verschaffen.
Die Partei Die Linke wird – zu Recht – meist nicht mehr als simple Fortsetzung der SED wahrgenommen. Die innerparteiliche Demokratie, gemessen an den anderen im Bundestag vertretenen Parteien, ist jedenfalls nicht unterentwickelt. Das von großen Teilen der Hauptvorläuferpartei PDS lange ersehnte „Ankommen“ in der Bundesrepublik ist jedoch im Wesentlichen ein Ankommen in der Mentalität einschlägiger westdeutscher und Westberliner Milieus und Denkweisen, namentlich bei den Jüngeren, bei Verlust an Bodenhaftung in Ostdeutschland. Die auf dem letzten Bundesparteitag der Linken sichtbar gewordene innere Spaltung bezieht ihre Schärfe nicht in erster Linie aus früheren programmatischen Differenzen, sondern hat vorwiegend mit unterschiedlichen Zugängen zu politischem Handeln und mit persönlichen Machtkämpfen zu tun. Die Linkspartei wirkt deshalb wie blockiert, und sie steht in der Gefahr, als relativ stabiler, aber nichts mehr bewegender Faktor der deutschen Politik fort zu existieren.
Die SPD verbindet seit jeher, genauer gesagt: seit sie in der Weimarer Republik die Möglichkeit erhielt, auf allen Ebenen der Verfassungsordnung praktisch-politisch zu gestalten, eine zwar zunehmend vager formulierte, aber bis heute nicht ganz aufgegebene, über die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse hinausweisende Zukunftsperspektive. Über die vorbehaltlose Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie setzt sie systemkonform auf kleine Schritte, Partizipation und sozialen Fortschritt. Das Dilemma des „kleineren Übels“, der vermeintlichen Notwendigkeit, Maßnahmen, Regierungskombinationen oder Personen zu unterstützen bzw. zu tolerieren, die den eigenen Zielsetzungen eigentlich entgegenstehen, um tatsächlich oder vermeintlich Schlimmeres zu verhüten, begleitet die Sozialdemokratie seit über hundert Jahren. Sie konnte ihre Mitgliedschaft und den größten Teil der Wählerschaft in solchen Fällen dann zusammenhalten, wenn sich der strategisch-taktische Zweck bestimmter „unvermeidlicher“ Manöver einigermaßen plausibel machen ließ, so z.B. bei der Bildung der ersten Großen Koalition in der Bundesrepublik 1966-69. Diese Jahre wurden sogar eine Zeit des Aufbruchs, der beginnenden Expansion und der gegenüber den frühen 1960er Jahren wieder deutlicheren Markierung einer spezifisch sozialdemokratischen Reformpolitik.
Die erwähnte, noch so unbestimmte Orientierung auf eine Transzendierung des Kapitalismus, jedenfalls des real existierenden war und ist bislang das eine Alleinstellungsmerkmal der SPD unter den etablierten Altparteien, das zweite die spezifische, gewissermaßen organische Verbindung mit den Gewerkschaften und lange Zeit auch zu breiten Arbeitnehmerschichten. Die Gewerkschaftsnähe ist spätestens seit Verkündung der Agenda 2010 erheblich gelockert, aber immer noch stark und von besonderer Art, besonders auf der Spitzenebene. Auch wenn sich der Punkt schwer benennen lässt, an dem die SPD aufhören würde, eine sozialdemokratische Partei in der tradierten Wortbedeutung zu sein, kann eine solche letztendliche Umwandlung nicht ausgeschlossen werden. Eventuell könnte dies auch durch andauernde Schrumpfung geschehen, so dass das übrig Bleibende nicht mehr als eigenständiger Faktor agieren könnte und mangels Einflusses z.B. auch für die Gewerkschaften nicht mehr interessant wäre. Zu warnen ist allerdings vor der Illusion, die Grünen bzw. die Linkspartei würden das Potential ggf. im großen Umfang erben.
So wie die Dinge liegen ist ein Ausweg für die SPD schwer zu erkennen, zumal die angekündigte „Erneuerung“ hauptsächlich auf ein „moderneres“ Erscheinungsbild, verstärkte digitale Präsentation und Diskussion hinauszulaufen scheint. Nimmt man die weniger düsteren, aber im Sinne der weitreichenden Ziele ebenfalls verbauten strategischen Optionen der beiden anderen relativ linken Parteien hinzu, dann gewinnt der seit einigen Monaten diskutierte Gedanke einer linken Sammlungsbewegung an Attraktivität. Es geht darum, die bestehenden Formationen, die aus sich selbst heraus den Weg zur Masse des Volkes nicht oder nicht mehr finden, zu beeinflussen und zu mobilisieren. Dass es auch in den am meisten entwickelten Staaten des Westens ein großes Potential für einen Neuansatz gibt, insbesondere unter jungen Leuten, haben – bei allen offenkundigen Besonderheiten – die Kampagnen von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders mit ihren jeweiligen Inhalten gezeigt, deren Erfolg bzw. relativer Erfolg die Medien überrascht hat. Insbesondere Sanders vermochte ein beträchtliches unzufriedenes Wählersegment anzusprechen, das die mit der Finanzindustrie liierte, als Inkarnation des Washingtoner Establishments daherkommende Hillary Clinton keineswegs wählen wollte.
Die vorgeschlagene Sammlungsbewegung wäre keine neue Partei und hätte auch nicht das Ziel, eine solche zu werden. Sie wäre ein Personenzusammenschluss, der die Mitgliedschaft und Mitarbeit in Parteien und anderen Vereinigungen nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar fördern sollte. In der SPD gibt es z.B. eine große Zahl langjähriger und der Tradition der Partei verbundener Mitglieder, die nie austreten werden, aber längst nicht mehr in den Gliederungen oder anderweitig präsent sind. Spötter sprechen von den unzufriedenen Sozialdemokraten als der größten SPD-Arbeitsgemeinschaft. Darüber hinaus ginge es darum, Parteilose einzubeziehen – Betriebs- und Personalräte, untere Gewerkschaftsfunktionäre, sozialkritische Christen beider Konfessionen, Umweltaktivisten, Globalisierungskritiker, Friedensbewegte – und solche, die sich bisher noch gar nicht engagiert haben. Der Idee der Sammlungsbewegung wird entgegengehalten, dass der Anstoß dazu von unten kommen müsse. Doch wenn die Zeichen nicht trügen, warten viele Menschen auf ein Signal derer, die eher die Chance haben, sich öffentlich zu artikulieren. Es besteht ein Bedürfnis nach Opposition, nicht allein auf dem parlamentarischen Feld. Nur wenn sie klare Alternativen darstellen, können die Parteien dem Auftrag des Grundgesetzes entsprechen, „an der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mit(zu)wirken“. Dafür benötigen sie mittlerweile Anstöße von außerhalb ihrer Binnenstrukturen. Ferner: Es ist nicht die Aufgabe eines Parlaments, die Meinungen der Wähler in ihrer quantitativen Verteilung einfach widerzuspiegeln. Wenn aber die Diskrepanz so groß wird, wie es in der Bundesrepublik in den vergangenen Legislaturperioden der Fall gewesen ist – so etwa im Hinblick auf den Afghanistan-Krieg, das Verhältnis zu Russland und die Krise der EU –, dann raubt dieser Zustand der Demokratie einen Teil ihrer Legitimität. In diesen und anderen Fragen reicht die Große Koalition des Mainstreams längst weit über die Regierungsparteien hinaus, während mit der AfD inzwischen eine rechte Opposition im Bundestag sitzt und dessen Tribüne nutzt, um sich als Vertretung „des“ Volkes gegen die abgehobenen Eliten darzustellen.
Die Sammlungsbewegung sollte mit der Veränderung des – in deutscher Tradition besonders unversöhnlichen – Umgangs unterschiedlicher Parteien, Fraktionen und geistigen Strömungen untereinander verbunden sein: Differenzen nicht verwischend, aber offen, tolerant und kameradschaftlich in der Form. Ein solcher neuer, Diffamierungen und Rechthaberei hinter sich lassender Stil würde sich besonders auf jenen Wahrnehmungsebenen und in jenen Politikbereichen zu beweisen haben, wo konträre Sichtweisen bestehen, so bei der persönlichen Sicherheit im Alltag und der Bekämpfung großer (auch Wirtschafts- ) wie kleiner Kriminalität, beim Umgang mit Flucht und Migration sowie beim Bedürfnis großer Teile der Bevölkerung nach regionaler Beheimatung und nationaler Selbstvergewisserung, auch bei (damit nicht identisch) der künftigen Rolle des Nationalstaats einerseits, der EU und der UNO andererseits. In krassem Gegensatz zur Tendenz der Wahlergebnisse belegen etliche Meinungsumfragen, dass die politische Grundeinstellung der Gesamtbevölkerung – in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten sogar verstärkt – in den „harten“ Themen der Politik deutlich links von den neoliberalen Eliten verortet ist. Wir brauchen deshalb einen alternativen Politikentwurf, der zunächst die Rückkehr zur Entspannungspolitik nach außen ins Auge zu fassen hätte, den Stopp der Waffenexporte in Spannungsgebiete, eine solidarische Unterstützung der armen Länder sowie die Demokratisierung und einen Kurswechsel der Europäischen Union, einen erneuerten Sozialstaat zwecks Sicherung des Lebensstandards im Alter und bei Erwerbslosigkeit sowie einer guten Pflege und Gesundheitsversorgung, die Neuregelung des Wohnungsmarkts zwecks Garantie für alle bezahlbarer Mieten, stärkere Steuergerechtigkeit bei Vereinfachung des Systems und Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen, die Re-Regulierung der Wirtschaft, insbesondere des Finanzsektors, in Kombination mit einem innovativen ökologischen Umbauprogramm, die Stärkung des Binnenmarkts, die staatliche Steuerung des begonnenen Digitalisierungsprozesses zwecks Umverteilung von Arbeit, ferner den Wiederaufbau der kaputt gesparten Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen, die wieder in die öffentliche Hand gehören, sowie den großzügigen Ausbau der Bildungseinrichtungen bei Förderung aller Begabungen unabhängig von der sozialen und ethnischen Herkunft. Auf einen Begriff gebracht, geht es darum, Gemeinschaftlichkeit und gesellschaftliche Solidarität auf einem qualitativ höherem Niveau und damit auch die Würde der Individuen zu stärken, und das setzt eine umfassende und systematische Politik sozialer Angleichung voraus.