Karl Nolle, MdL

SPIEGEL ONLINE, 19.10.2018

Abschied von Godesberg - Diese Koalition ist es nicht wert, dass sich die SPD dafür opfert

 
Wenn die Sozialdemokratie überleben will, braucht sie einen radikalen Schnitt: Weg vom Anspruch eine Volkspartei zu sein - und raus aus der Großen

Kommentar von Veit Medick

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Der SPD geht es schlecht, historisch schlecht. Von Angst getrieben und von Selbstzweifeln zerfressen, irrlichtern die Genossen durch die politische Landschaft. Gut 150 Jahre nach ihrer Gründung geht es um die Frage, ob die stolze, alte Sozialdemokratie überhaupt noch eine Zukunft hat. Und die Antwort von Parteichefin Andrea Nahles lautet, dass man endlich anfangen müsse, redlich und ruhig zu regieren.

Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Um die politischen Umwälzungen im deutschen und europäischen Parteiensystem zu überstehen, wird solide Regierungsarbeit für die SPD nicht ausreichen, selbst wenn die Große Koalition dazu noch einmal in der Lage wäre. Um zu überleben, braucht die SPD einen Bruch. Auch wenn das schmerzhaft ist: Sie braucht einen Schnitt, personell, machtpolitisch, vor allem aber, was das eigene Selbstverständnis angeht. Die SPD muss den Anspruch aufgeben, Volkspartei zu sein, wenn sie jemals wieder eine werden will. Weg von Godesberg.

Bisher versuchten die Genossen, sich breiter aufzustellen, je weniger Zuspruch sie erhielten und je stärker die Konkurrenz wurde. Mal geben sie sich linker als die Linken, mal pragmatischer als die Union, mal fast so populistisch wie die AfD. Aus Angst, weitere Wähler zu verprellen, versuchen sie, für so gut wie jeden etwas im Angebot zu haben. Das hat die Partei entwertet, sie wirkt beliebig und haltungslos. Die SPD ist zum Hertie der Politik geworden. Ein großes Kaufhaus, in das niemand mehr kommt.

In Zeiten der Kanzler Willy Brandt oder Helmut Schmidt war es für viele Menschen selbstverständlich, SPD zu wählen. Aber wer den Populismus bekämpfen will, muss verstehen, dass Politik anders funktioniert als in den Siebzigern und Achtzigern. Wer im heutigen politischen System ernst genommen werden will, muss zunächst einmal wahrgenommen werden. Politik ist ein Konsumgut geworden, notfalls wechseln die Wähler eben den Laden.

Nahles setzt auf die Klassiker Rente, Löhne und Arbeitsplätze. Aber es reicht nicht mehr, materielle Versprechungen zu machen. "It's the economy, stupid", war Bill Clintons Motto, er gewann so einst eine Präsidentschaftswahl. "It's emotion, stupid", muss es heute heißen. Wer nur die fachliche, nicht aber die sinnliche Ebene bespielt, verliert gegen die Links- und Rechtsextremen. Gerhard Schröder, der zuweilen mit einer sehr eigenen Sprache Milieus erschloss, die sonst vielleicht gar nicht gewählt hätten, wusste das übrigens schon. "Hol mir mal 'ne Flasche Bier", rief er. Und plötzlich war Politik nahbar.

Die Wähler emotional ansprechen, das heißt für die SPD: Programm entrümpeln, Botschaften vereinfachen, Klarheit lernen, lebensnahe Themen richtig besetzen. Die Schulmisere, das Verwaltungschaos, die Wohnungsnot, die Drogenpolitik, die Pflege. Die SPD muss ein Stück zurück in die Nische, die sie 1959 mit dem Godesberger Programm verließ. Und natürlich muss sie nach links. Es gibt in Deutschland alles, nur keine ernst zu nehmende Kritik an den Verzerrungen des globalen Kapitalismus, keinen Bernie Sanders, keinen Jeremy Corbyn. Die teils grotesken Ungerechtigkeiten unseres Wirtschaftssystems müssten es den Sozialdemokraten eigentlich leicht machen zu emotionalisieren. Nur müsste die SPD dafür Dinge radikaler infrage stellen. Die Verteilung von Reichtum, das Finanzsystem, internationale Allianzen. Sie müsste auch mal ihre Liaison zur Autoindustrie kündigen und ernsthaft durchbuchstabieren, was sie darunter versteht, wenn sie fordert, globale Netzkonzerne einzuhegen. Dorthin gehen, wo es stinkt und brodelt, riet Sigmar Gabriel einst seiner Partei. Das heutige Führungsduo erscheint nicht mal in Chemnitz.

Wahlen werden in der Mitte gewonnen, heißt es, und auch ansonsten wird es immer Argumente dagegen geben, dem Bauch mehr als dem Kopf zu folgen: die wirtschaftlichen Folgen, die Glaubwürdigkeit. Aber wer sich nicht mehr traut, kantige Haltungen einzunehmen, wird niemanden gewinnen. Die SPD muss auf Risiko setzen und bereit sein, sich wieder Feinde zu machen. Nur so wird sichtbar, ob sie noch lebt.

In der Großen Koalition kann sich die SPD nicht retten. Jeder Kompromiss macht sie noch weniger erkennbar, als sie es schon ist. Die Radikalität, die die Partei jetzt braucht, ist in der Regierung nicht möglich. Ein Bruch der Koalition wird schwierig, man wird den Genossen Verantwortungslosigkeit vorwerfen. Doch das Bündnis hat nie geleistet, wofür es gebildet wurde. Es stabilisiert das Land nicht, im Gegenteil. Die Genossen sollten gehen. Diese Koalition ist es nicht wert, dass sich die SPD für sie opfert.