Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 13.01.2019
Texte zu Hartz IV und Agenda 2010 von Heribert. Prantl
Hartz IV Ist das Gericht befangen?
Das Verfassungsgericht wird in seinem Jubiläumsjahr eine bedeutende Entscheidung zur Sozialgesetzgebung fällen. Doch ausgerechnet der gerade neu berufene Senatspräsident wirft einen Schatten.
Von Heribert Prantl
Dies wird ein heikler Auftakt zum Jahr des siebzigsten Jubiläums des Grundgesetzes. Das Verfassungsgericht verhandelt am Dienstag über die umstrittenste Frage deutscher Sozial- und Gesellschaftspolitik: Ist der wichtigste und längste Paragraf des Hartz-IV-Gesetzes verfassungswidrig, weil er die Kürzung des Arbeitslosengeldes II bis auf null erlaubt? Dieser Sanktionsparagraf ist das kalte Herz von Hartz-IV.
Darf das Herz so eiskalt sein? In einer ersten großen Entscheidung zu Hartz IV vor neun Jahren hat das Verfassungsgericht ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums postuliert. Die Frage lautet jetzt: Wenn die Hartz-IV-Beträge (die aufgrund des damaligen Urteils neu festgesetzt worden sind) das Existenzminimum darstellen - darf das Jobcenter sie kürzen, um Arbeitslosen Beine zu machen? Anders gefragt: Darf der Sozialstaat das Minimum minimieren oder gar streichen, weil der Arbeitsvermittler den Empfänger für undizipliniert hält? Der umstrittene Paragraf behandelt Arbeitslose als potenzielle Faulpelze, denen man die Faulpelzerei austreiben müsse.
2017 haben die Betreuer in den Jobcentern fast eine Million Mal auf dieser Basis die Leistungen gekürzt oder gestrichen. Das Urteil wird die Zukunft des deutschen Sozialstaats buchstabieren. Es wird das Urteil sein zum Grundgesetzjubiläum. Es geht um eine Frage, die die deutsche Gesellschaft umtreibt wie sonst nur noch das Flüchtlingsthema, um eine Frage, die die SPD in den Abgrund gestürzt hat. Und ausgerechnet in dieser Frage ist das höchste Gericht in einer heiklen Situation: Stephan Harbarth, der neue Vorsitzende des zuständigen Ersten Senats, jetzt Vizepräsident und künftig Präsident des Verfassungsgerichts, muss sich fragen lassen, ob er in dieser Sache wirklich ganz unbefangen ist. Harbarth hat vor einem halben Jahr, damals war er noch CDU-Abgeordneter im Bundestag, in namentlicher Abstimmung für die Beibehaltung des Sanktionsregimes im Hartz-IV-Gesetz gestimmt - jener Regeln also, die jetzt auf dem Prüfstand stehen.
Jetzt soll er die Verhandlung des Gerichts leiten. Erwacht da nicht bei fast jedem Beobachter die Besorgnis der Befangenheit? Nach dem Gesetz ist allerdings die bloße frühere Beteiligung am einschlägigen Gesetzgebungsverfahren kein zwingender Ausschlussgrund; im vorliegenden Fall freilich war die Parlamentssitzung nicht in grauer Vorzeit, sondern erst vor wenigen Monaten, am 28. Juni 2018. Die besondere zeitliche Nähe macht Unbehagen. Verfassungsrichter Peter Müller hat sich 2018 bei der Verhandlung der Verfassungsbeschwerden über die Sterbehilfe selbst abgelehnt, weil er sich einst als saarländischer Ministerpräsident für ein strafbewehrtes Verbot organisierter Suizidhilfe eingesetzt hatte. Das Gericht stimmte dieser Selbstablehnung zu, weil es sich um Umstände handele, die über die bloße frühere Mitwirkung am Gesetzgebungsverfahren hinausgehen. Bei "vernünftiger Würdigung aller Umstände" habe ein Verfahrensbeteiligter Anlass, "an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln." Die Selbstablehnung ist in einem solchen Fall und bei solchen Zweifeln eine korrekte und elegante Lösung. Auch Verfassungsrichter Stephan Harbarth sollte es so halten. Er stärkt damit das Gericht, dessen Unabhängigkeit - und seinen eigenen Ruf.
7. Januar 2019,
Das kalte Herz des Hartz-IV-Gesetzes
Darf das Jobcenter Langzeitarbeitslose zwiebeln? Darf der Staat das Existenzminimum kürzen oder gar streichen? Das Verfassungsgericht verhandelt am Dienstag darüber.
Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl
Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Das Recht, auch als Langzeitarbeitsloser eine bescheidene Lebensgrundlage zu haben, ist ein Grundrecht. Grundrechte kann man eigentlich nicht kürzen, nicht um die Hälfte verkleinern oder gleich ganz streichen. Das Bundesverfassungsgericht spricht vom Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Wenn das menschenwürdige Existenzminimum einem Langzeitarbeitslosen partiell entzogen wird - ist es dann ein menschenunwürdiges Existenzminimum? Die Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger, wie sie als Druck- und Disziplinierungsmittel gang und gäbe sind, sind daher womöglich höchst bedenklich. Darüber hat das Bundesverfassungsgericht nun zu urteilen.
Darf der Staat das Existenzminimum minimieren? Die schwarze Pädagogik, die in der Kindererziehung verpönt ist, hat Hartz IV bei erwachsenen Menschen wieder eingeführt. Bei Verletzung der "Mitwirkungspflicht" droht jedenfalls die "Absenkung der Grundsicherung", wie das im Behördenjargon heißt (Lesen Sie hierzu auch den Leitartikel "Auf zum letzten Gefecht" aus dem Jahr 2004).
Es ist gut, dass das Sozialgericht Gotha einen extremen Fall von Leistungskürzung dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt hat. Am Dienstag beginnt in Karlsruhe die Verhandlung darüber (Lesen Sie hierzu auch das Essay "Korrektur des Schicksals" aus dem Jahr 2010).
Das Mini-Minimum
In dem Fall, der zu entscheiden ist, hatte das Jobcenter einem Hartz-IV-Empfänger die Leistungen in zwei Stufen gekürzt: Erst um dreißig Prozent, weil der Mann eine konkrete Vermittlung ablehnte. Dann um sechzig Prozent, als er einen Gutschein zur Erprobung in einem Unternehmen nicht einlöste. Kürzung des Existenzminimums als Druckmittel: Etwa eine Million Mal jährlich wird dieses Druckmittel eingesetzt, wird also das Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, gekürzt oder sogar ganz gestrichen. Unter den Arbeitslosen, denen die Leistungen komplett gestrichen wurden, sind jedes Jahr auch ein paar tausend junge Menschen. Sie haben dann nur noch Anspruch auf einen Lebensmittelgutschein im Wert von 64 Euro im Monat. Kann und darf das sein? Ist das wirklich der richtige Druck? Ist das nicht eher Beihilfe zur Obdachlosigkeit oder zur Kriminalisierung?
Am kommenden Dienstag verhandelt das Bundesverfassungsgericht darüber, ob der Staat die Hilfebedürftigen, wenn sie ihrer Meldungspflicht nicht genügen, strafen darf, in dem er ihnen das Geld kürzt - das Geld nämlich, von dem das höchste Gericht noch vor ein paar Jahren gesagt hat, dass es sich um das Existenzminimum handele (Lesen Sie hierzu auch den Leitartikel "Das neue Minimum" aus dem Jahr 2010).
Besser eine halbsinnlose Tätigkeit als gar keine?
Was ist von einem solchen Hartz IV zu halten? Bei denjenigen, die von Hartz IV nicht betroffen sind, gilt es als ein gutes Gesetz - weil es der angeblichen Vollkasko-Mentalität der betroffenen Menschen entgegenwirkt; weil es als ein Gesetz wahrgenommen wird, das Arbeitslose zu aktivieren versucht, und weil das Gesetz sie zwingt, lieber irgendwas Halbsinnloses zu tun als gar nichts.
Für diejenigen freilich, die mit Hartz IV leben müssen, ist es ganz anders; für sie ist es ein Gesetz, das sie überwacht, sie fordert, ja gewiss auch fördert; das aber vor allem ihre Aktivitäten, ja, ihren gesamten Lebensstil kontrolliert und sanktioniert. Und wenn sich die Erwerbslosen nicht so verhalten, wie das Gesetz sich das vorstellt, wird die Hartz-IV-Leistung, die die "Grundsicherung" sicherstellen soll, massiv gekürzt. Ein Gnadengeld ist Hartz IV nicht: Die Arbeitnehmer haben in eine Versicherung einbezahlt im Vertrauen auf Anwartschaften, um die sie am Ende gebracht worden sind. In Frankreich würden sie gelbe Westen anziehen deswegen.
Elemente des Strafrechts im Sozialrecht
Mit Hartz IV haben Elemente des Strafrechts ins Sozialrecht Einzug gehalten. Wie ist das in einem Sozialstaat möglich? Das liegt daran, dass von der sogenannten guten Gesellschaft auf die sogenannten Hartzer heruntergeschaut wird, als handle es sich im Wesentlichen um Missbraucher - und der Missbrauch soll bestraft werden. Gewiss gibt es solche Missbraucher, als kleine Minderheit der Leistungsempfänger. Das Gros aber kämpft um Arbeit, Anerkennung und den Respekt der Gesellschaft. Hartz IV macht ihnen das schwer: Es ist ein schikanöses Gesetz, das die Behörden zu Verwaltungsexzessen zwingt und die Lebensleistung auch der Menschen missachtet, die einen Großteil ihres Lebens gearbeitet haben und dann von Arbeitslosigkeit erwischt wurden. Sie alle werden von Hartz IV entmündigt.
Ein Paragraf für angebliche Faulpelze
Der Sanktionsparagraf 31 des Sozialgesetzbuchs II ist das kalte Herz des gesamten Hartz-Gesetzes; es ist dies der längste Paragraf und offenbar der praktisch wichtigste: Wie kann man die Hartz-IV-Empfänger zwiebeln? Der Paragraf behandelt die Leute als potenzielle Faulpelze, denen man die Faulpelzerei auf Schritt und Tritt austreiben muss. Hartz IV macht den Bürger, wenn er arm ist, zum Untertan. Das darf nicht sein. Das Bundesverfassungsgericht muss diesen unguten staatlichen Paternalismus beenden.
Vor das Gericht in Karlsruhe sind am Dienstag zur mündlichen Verhandlung die Vertreter aller Bundesländer geladen; dazu der Präsident des Bundessozialgerichts, die Bundesagentur für Arbeit, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Sozialverband Deutschland, die Diakonie, der Caritasverband, der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Deutsche Sozialgerichtstag und die Arbeitsgemeinschaft Sozialrecht im Deutschen Anwaltverein.
Ist der Vizepräsident befangen?
Die Verhandlung vor dem Ersten Senat des Verfassungsgerichts leitet Stephan Harbarth, der neue Vorsitzende Richter des Ersten Senats und Vizepräsident des Verfassungsgerichts. Harbarth war bis Ende November 2018 noch Abgeordneter der CDU im Bundestag, er war als Parlamentarier natürlich auch mit Hartz IV befasst. Am 30. November wurde er zum Verfassungsrichter ernannt. Nun ist normalerweise die frühere Mitwirkung an einem einschlägigen Gesetzgebungsverfahren noch kein Grund, den Richter von diesem Verfahren auszuschließen; so steht es im Gesetz. Das Besondere bei Harbarth ist freilich, dass die Vorbefassung erst ein gutes halbes Jahr her ist. Damals wurde in namentlicher Abstimmung im Bundestag genau über die Hartz-IV-Fragen abgestimmt, über die er jetzt als unabhängiger Richter entscheiden soll.
Besorgnis der Befangenheit? Zweifel daran sind jedenfalls nicht völlig unvernünftig. Es wäre daher gut, wenn sich Harbarth in dieser Hartz-IV-Verhandlung selbst ablehnen und aus dem Spiel nehmen würde. Diese Lösung wäre elegant - und die beste für das Gericht und die Sache.
Am Tag, an dem das Bundesverfassungsgericht über Hartz IV verhandelt, entscheidet das britische Parlament über den Brexit. Aufregende Zeiten. Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns eine menschen- und europaverträgliche Woche - und ein feines Winterwetter.
20. Februar 2010
Korrektur des Schicksals
Westerwelle, Hartz-IV-Urteil und die Folgen: Warum der Sozialstaat verteidigt werden muss. Ein Plädoyer.
Von Heribert Prantl
Bei seiner Rückkehr aus Amerika ärgerte sich Christoph Kolumbus über die Äußerung des Kardinals Mendoza, dass es doch ein Leichtes gewesen sei, die Neue Welt zu entdecken; das hätte, meinte der Kardinal bei einem festlichen Essen, jeder gekonnt. Daraufhin verlangte Kolumbus von den anwesenden Personen, ein gekochtes Ei auf der Spitze aufzustellen. Alle Versuche, das zu bewerkstelligen, scheiterten. Man war schließlich davon überzeugt, dass es sich um eine unlösbare Aufgabe handle. Kolumbus aber nahm das Ei, schlug es mit der Spitze auf den Tisch, so dass es leicht eingedrückt wurde und stehenblieb. Das hätten sie auch gekonnt, protestierten die Umstehenden. Kolumbus antwortete: "Der Unterschied ist, meine Herren, dass Sie es hätten tun können, ich hingegen habe es getan!"
Guido Westerwelle scheint sich neuerdings wie der Kolumbus des Sozialstaats vorzukommen. Seit dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts präsentiert er sich als der einzige Politiker mit Durchblick, als der, der die Wahrheiten offen ausspricht und der das Rezept dafür hat, um den Sozialstaat zurechtzustauchen. Weil ihm aber ein Ei nicht genügt, hat er die Eier reihenweise auf den Kopf gehauen. Mit unzuträglichen Zuspitzungen und mit Rüpeleien gegen die Armen hat er geglaubt "Neuland" zu entdecken. Erreicht hat er immerhin, dass sich das öffentliche Augenmerk weniger auf das trübe Erscheinungsbild der FDP richtet, sondern allgemein darüber diskutiert wird, ob der Sozialstaat grundlegend reformiert werden muss. Die Art der Diskussionseröffnung war schon deshalb problematisch, weil Westerwelle bei seinem Versuch rohe Eier genommen hat.
Der Sozialstaat ist nicht der Abfalleimer, in den man dann die Eierschalen wirft. Der Sozialstaat gehört zum Kostbarsten, was diese Republik geschaffen hat; also muss man pfleglich mit ihm umgehen, auch wenn man ihn kritisiert. Der Sozialstaat ist Heimat. Darüber lästern kann nur der, der keine Heimat braucht. Heimat Sozialstaat: Damit verträgt es sich nicht, wenn immer mehr Menschen ausgegrenzt werden, wenn die deutsche Gesellschaft wieder zur Klassengesellschaft wird, wenn eine steigende Zahl von Kindern in Armut aufwächst, wenn es nicht mehr stimmt, dass jeder es nach oben schaffen kann, wenn er nur fleißig und begabt ist. Soziale Rechte sind Rechte auf Teilhabe, sie sollen den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft wahren und sie vor Verwahrlosung bewahren. Dies verlangt auch, den Sozialstaat so zu pflegen, dass er selbst nicht verwahrlost.
Es ist nämlich so: Das Leben beginnt ungerecht und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser. Der eine wird mit dem silbernen Löffel im Mund geboren, der andere in der Gosse. Der eine zieht bei der Lotterie der Natur das große Los, der andere zieht die Niete. Der eine erbt Talent und Durchsetzungskraft, der andere Krankheit und Antriebsschwäche. Der eine kriegt einen klugen Kopf, der andere ein schwaches Herz. Der eine ist sein Leben lang gesund, der andere wird mit einer schweren Behinderung geboren. Die Natur ist ein Gerechtigkeitsrisiko.
Bei der einen folgt einer behüteten Kindheit eine erfolgreiche Karriere. Den anderen führt sein Weg aus dem Ghetto direkt ins Gefängnis. Der eine wächst auf mit Büchern, der andere mit Drogen. Der eine kommt in eine Schule, die ihn starkmacht, der andere in eine, die ihn kaputtmacht. Der eine ist gescheit, aber es fördert ihn keiner. Der andere ist doof, aber man trichtert ihm das Wissen ein. Die besseren Gene hat sich niemand erarbeitet, die bessere Familie auch nicht. Das Schicksal hat sie ihm zugeteilt. Der eine bekommt eine Arbeit, die ihn reich macht, der andere eine, die ihn kaputtmacht; der Nächste kriegt gleich gar keine Arbeit. Nicht immer hat das mit persönlicher Leistung zu tun, nicht immer mit persönlicher Schuld.
Das Schicksal teilt ungerecht aus; und es gleicht die Ungerechtigkeiten nicht immer aus. Hier hat der Sozialstaat seine Aufgabe. Er sorgt dafür, dass der Mensch reale, nicht nur formale Chancen hat. Es genügt ihm nicht, dass der Staat Kindergärten, Schulen und Hochschulen bereitstellt mit formal gleichen Zugangschancen für Vermögende und Nichtvermögende; der Sozialstaat sorgt auch für die materiellen Voraussetzungen, die den Nichtvermögenden in die Lage versetzen, diese formale Chance tatsächlich zu nutzen. Der Sozialstaat ist also, mit Maß und Ziel, Schicksalskorrektor.
Der Sozialstaat stellt nicht nur Suppenküchen auf, er erschöpft sich also nicht in der Fürsorge für Benachteiligte; er zielt auch auf den Abbau der strukturellen Ursachen für die Benachteiligung. Er ist der Handausstrecker für die, die eine helfende Hand brauchen. Er ist der große Ermöglicher. Er gibt den Armen nicht nur Bett und Dach, sondern ein Fortkommen aus der Armut. Nicht die freie Entfaltung des Kapitals ist das Anliegen der bürgerlichen Freiheitsrechte, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen. Eine Umverteilung von oben nach unten zum Zweck der sozialen Grundsicherung aller Bürgerinnen und Bürger und zur Herstellung annähernd gleicher Chancen und Lebensbedingungen ist kein sozialistischer Restposten, keine Sozialklimbim und kein Gedöns, sondern demokratisches Gebot. Der gute Sozialstaat ist keine Almosen-Verteilungs-Anlage. Es geht ihm vielmehr darum, die Menschen in die Lage zu versetzen, Bürger zu sein. Der moderne Sozialstaat befreit daher den Menschen nicht nur vom Status negativus, also vom Leben in Not, sondern ermöglicht ihm auch den Status positivus. Sozialstaat und Demokratie gehören zusammen, sie bilden eine Einheit.
Der gute Sozialstaat ist daher auch keine Unternehmung, die nur auf die Krankheit, die Arbeitslosigkeit, den Schicksalsschlag wartet und dann helfend eingreift. Seine Leistungsstärke zeigt sich also nicht erst und nicht nur am Niveau der Versorgung, wenn dieser Fall eintritt und er dann die Kalamitäten möglichst gut ausgleicht. Sie zeigt sich auch an der Kreativität, mit der er es seinen Bürgern ermöglicht, selbstbestimmt zu leben. Der gute Sozialstaat investiert ins Soziale, zum Beispiel in die Bildung der Kinder der neuen Unterschichten; er verwandelt die Schwächen der Generation Migration in Stärken, er fördert die sprachlichen Kompetenzen und den interkulturellen Reichtum dieser Generation. Solche Sozialpolitik wächst über ihre industriegesellschaftliche Herkunft hinaus.
Das Übel, dass viele Leute ein schlechtes Leben führen, resultiert ja nicht daraus, dass andere Leute ein besseres Leben führen. Das Übel liegt darin, dass schlechte Leben schlecht sind. Und das Gute ist, dass, auch mittels derer, die ein besseres Leben führen, denjenigen geholfen werden kann, deren Leben schlecht ist. Und das Gute zumal in Deutschland ist, dass es ein Bundesverfassungsgericht gibt, das dies soeben verbindlich für Staat und Gesellschaft vorgeschrieben und den Bedürftigen einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gegeben hat: Dieses Existenzminimum bemisst sich danach erstens an der konkreten Situation der Hilfsbedürftigen, zweitens an den wirtschaftlichen Gegebenheiten, also am aktuellen Entwicklungsstand der Gesellschaft. Noch einmal in aller Deutlichkeit: In der Bundesrepublik Deutschland gibt es ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Die von Guido Westerwelle ausgelöste wilde Diskussion nach dem Urteil hat das nicht erfasst oder nicht erfassen wollen. Vielleicht war das Absicht; vielleicht sollte diese Diskussion dieses Grundrecht für die Armen einfach verschütten.
Das Karlsruher Urteil weist dem Sozialstaat eine zupackende Aufgabe zu. Ein Sozialstaat, so sagt das Gericht, ist nicht schon automatisch dann ein guter Sozialstaat, wenn er viel Geld für das Soziale ausgibt; es muss dahinter ein klares Konzept stecken, das mit nachvollziehbaren Berechnungen auch Rücksicht nimmt auf den Einzelfall. Im Urteil der höchsten Richter steckt so etwas wie heiliger Zorn - heiliger Zorn darüber, wie uninteressiert und schludrig die Gesetzgebung zumal die Beträge für Kinder in armen Verhältnissen festgesetzt hat. Wenn der Staat schon nicht dafür sorgen kann, dass alle Kinder in geordneten Verhältnissen geboren werden, dann muss er wenigstens dafür sorgen, dass sie sodann die Förderung erfahren, die sie brauchen.
Dieses Urteil ist der Beitrag des höchsten deutschen Gerichts zum Auftakt des "Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung". Dieses EU-Jahr 2010 läuft hierzulande unter dem Motto: "Mit neuem Mut". Die politische Diskussion nach dem Hartz-IV-Urteil hat das anscheinend in den falschen Hals bekommen. Der Mut der Bundesregierung besteht vor allem darin, Auswege zu suchen, um die Karlsruher Entscheidung zu konterkarieren und die Grundsicherung so kleinzurechnen, dass man den Wohlhabenden Steuergeschenke machen kann. Wirtschaftsvertreter haben "auf der Basis" des Hartz-IV-Urteils gar für eine Reform geworben, die zu niedrigeren Regelbeträgen führen soll. "Auf der Basis des Urteils" kann man aber hier wirklich nicht sagen, weil ein solches Votum keinerlei Basis im Urteil hat.
Wer nun gar die Herabsetzung der ohnehin niedrigen Hartz-IV-Regelsätze fordert, der missbraucht, vorsätzlich oder fahrlässig, das Karlsruher Urteil. Er nutzt die vom Gericht in richterlicher Zurückhaltung gebrauchte Formulierung, die bisherigen Sätze seien nicht "offensichtlich unzureichend", dazu aus, die darin enthaltene Aussage ins Gegenteil zu verkehren. Das ist eine Missachtung des Gerichts.
Selten ist ein höchstrichterliches Urteil in der sich anschließenden politischen Diskussion so umgedreht worden wie das Hartz-IV-Urteil. Guido Westerwelle hat die Hartz-IV-Empfänger rundweg als Faulpelze beschimpft, die nach "anstrengungslosem Wohlstand" trachten. Wohlstand? Den so Beschimpften fehlen nicht nur Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung, es fehlt ihnen die Kraft, sich zu wehren und sich zu organisieren - auch gegen politische und publizistische Missachtung. Sicher: Es gibt solche Hartzer, die es sich in sozialer Verwahrlosung irgendwie eingerichtet haben und den Staat als Zapfanlage betrachten. Die schlechteste Reaktion darauf ist es, wenn der Unmut darüber sich auf alle Hartz-IV-Empfänger ergießt.
Die Armut in Deutschland ist eine andere als die im 19. Jahrhundert; es gibt keine arme Klasse mehr, die sich kämpferisch zusammenschließen könnte. Den Armen von heute fehlt das Sprachrohr, das einst für die Arbeiterklasse die Gewerkschaft war; ihnen fehlen der Stolz, das Selbstbewusstsein, das Zusammengehörigkeitsgefühl; jeder ist für sich allein - relativ arm dran. Armut hat heute so viele Gesichter: da ist der arbeitslose Akademiker; da ist der Gelegenheitsarbeiter und der wegrationalisierte Facharbeiter; da ist die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft; da ist die Supermarkt-Kassiererin auf Stundenbasis; da sind die Langzeitarbeitslosen, da sind die schon immer Zukurzgekommenen am Rand der Gesellschaft; da sind die Einwandererkinder, die nicht aus dem Ghetto herauskommen. Für sie alle hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil geschrieben.
Es ist sozusagen die Langfassung eines Satzes, der in der Präambel der Schweizerischen Verfassung von 1999 steht: "Die Stärke eines Volkes misst sich am Wohl der Schwachen." Das ist ein durchaus mutiger Satz, weil diese Stärke gern an ganz anderen Faktoren bemessen wird. Die einen messen die Stärke von Volk und Staat am Bruttosozialprodukt und am Exportüberschuss, die anderen reden dann vom starken Staat, wenn sie mehr Polizei, mehr Strafrecht und mehr Gefängnis fordern. Zu wenige reden von der Stärke eines Volkes, wenn es darum geht, menschenwürdige Mindestlöhne durchzusetzen. Zu wenige reden vom starken Staat, wenn es darum geht, soziale Ungleichheit zu beheben, etwas gegen die Langzeitarbeitslosigkeit zu tun und die Sozial- und die Bildungspolitik gut miteinander zu verknüpfen.
Den Sozialstaat neu erfinden? Angesichts der Tonlage, in der das gesagt wird, kann man das als Drohung verstehen. Die letzte "Neuerfindung" des Sozialstaats durch Bundeskanzler Gerhard Schröder hat weder zum Besseren und Gerechteren, noch zu Kostenersparnissen geführt, sondern zu mehr Armut und viel Verdruss. Der Sozialstaat muss nicht neu erfunden, er muss ordentlich gestaltet, berechnet und gut gepflegt werden; das Urteil des Verfassungsgerichts ist dafür ein guter Plan; dieses Urteil "erfindet" nichts, es findet aber die heutigen Schwachstellen.
Zu diesen Schwachstellen gehört durchaus die, auf die sich Guido Westerwelle kapriziert hat: Es ist ein Problem auch des Sozialstaates, wenn Menschen, die arbeitslos sind, zum Teil mehr Geld erhalten als die, die arbeiten. Es ist ein Problem, wenn Arbeit sich quasi nicht mehr rentiert. Westerwelle & Co. meinen, schuld daran seien nicht die niedrigen Arbeitslöhne, sondern die zu hohen Sozialleistungen. Die Abwärtsspirale in die Not ist aber nicht dadurch zu stoppen, dass die Sozialleistungen für diejenigen, die keine Arbeit haben, gekürzt werden. Das macht die Niedriglöhner nicht reicher, das senkt zudem ihre Ansprüche auf Sozialleistungen, mit denen der Niedriglohn aufgestockt wird - und das ermutigt Arbeitgeber, die Niedriglöhne noch weiter zu senken. Was würde dann passieren? Die Arbeitgeber würden natürlich Kosten sparen - und zugleich würde der Staat entlastet, weil er (nach der Logik, dass der, der arbeitet, mehr haben muss als der, der nicht arbeitet) seine Sozialleistungen noch weiter absenken müsste. Das alles endet in der Asozialität.
Aus dieser Armutsfalle heraus führt nur der Weg, den zwanzig Mitgliedsstaaten der EU schon gegangen sind: die Einführung von Mindestlöhnen, die einen Abstand zwischen den unteren Löhnen und dem staatlich garantierten Existenzminimum sicherstellen.
Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen. Die Bürger in einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie brauchen eine leidlich gesicherte Existenz. Das Leben wird weiterhin ungerecht beginnen und es wird ungerecht enden. Dass es dazwischen einigermaßen gerecht zugeht - dafür gibt es den Sozialstaat.
10. Februar 2010,
Das neue Minimum
Von Heribert Prantl
Dieses Urteil ist ein Fundamentalurteil; es stellt den deutschen Sozialstaat auf ein neues Fundament. Das Urteil wird die Sozial-, die Steuer- und die Gesellschaftspolitik des nächsten Jahrzehnts so prägen, wie dies zuletzt die Karlsruher Urteile zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts getan haben. Das Verfassungsgericht gibt dem Gesetzgeber auf, die Armutsgrenze in Deutschland neu zu beschreiben und festzusetzen: nach nachvollziehbaren und überprüfbaren Kriterien. Und das Gericht fordert, den Kindern in dieser Gesellschaft endlich den Wert zu geben, den sie haben, sowie das Geld und die Förderung, die sie brauchen. Das Urteil weist dem Sozialstaat eine packende Aufgabe zu.
Der Sozialstaat muss der Schicksalskorrektor für Kinder sein, die in armseligen Verhältnissen geboren werden. Die Kinder können nichts dafür; Natur und Schicksal sind Gerechtigkeitsrisiken. Der Staat muss daher dafür sorgen, dass diese Kinder echte, und nicht nur formale Chancen haben. Das kostet. Aber wenn der Staat die Rolle des Schicksalskorrektors nicht annimmt, macht er sich schuldig und verbaut nicht nur den Kinder, sondern sich selbst die Zukunft. Dieser Sozialstaat darf kein Pi-mal-Daumen-Staat sein, der glaubt, er könne mit einer pauschalen Gesamtleistung die Sorgfalt bei der Feststellung der individuellen Bedürfnisse ersetzen. Die soziale Kraft des Sozialstaats zeigt sich in seinem Umgang mit dem Einzelnen. Das Urteil verlangt daher von der Politik mehr Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Armen dieser Gesellschaft, es verlangt vom Gesetzgeber legislative Sorgfalt.
Das Verfassungsgericht zeigt nicht nur die Summe der Fehler der Hartz-IV-Politik auf; es formuliert nicht nur eine Abrechnung mit einer kurzatmigen Politik, der vor allem das Plakative wichtig war. Das Gericht formuliert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Und es begründet eine Grundpflicht des Staates, dieses Minimum zu garantieren und zu konkretisieren. Man mag dem Gericht vorwerfen, es sei neuerdings etwas fix in der Ausrufung von Grundrechten - zuletzt wurde das sogenannte Computergrundrecht proklamiert. Eine solche Kritik verkennt aber erstens den Auftrag des Gerichts, Grundrechte in die Gegenwart zu übersetzen. Und solche Kritik verkennt im konkreten Fall, dass das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes einer verfassungsrichterlichen Anreicherung dringend bedurfte. Das Grundgesetz macht nicht so arg viel Aufhebens um das Soziale. Nur in der Theorie gehört das Sozialstaatsprinzip zu den Grundprinzipien der Verfassung. Die verfassungsrechtliche Praxis war bisher anders: Sie hat sich vor allem des Rechtsstaatsprinzips angenommen und es liebevoll ziseliert. Das ändert sich nun, mit dem Hartz-IV-Urteil. Das Sozialstaatsprinzip, im Grundgesetz von erhabener Kargheit, erhält mit diesem Urteil Kraft und Dynamik. Man kann es auch so sagen: Die Verfassungsrichter haben den Artikel 20, in dem der "soziale Bundesstaat" steht, gegossen und gedüngt, auf dass darauf eine ordentliche Gesetzgebung wachsen kann.
Das Existenzminimum: Das Gericht setzt die neuen Beträge nicht selbst fest, es überlässt das dem Gesetzgeber. Es gibt der Politik (etwas zu vage) Kriterien an die Hand, die nicht unbedingt zu Zig-Milliarden-Erhöhungen führen müssen. Im Urteil schimmert gleichwohl so etwas durch wie heiliger Zorn - Zorn darüber, wie schludrig, schlampig, uninteressiert, uninformiert und unzulässig pauschaliert die Gesetzgebung zumal die Beträge für Kinder in armen Verhältnissen festgesetzt hat. Die Richter sind empört darüber, wie Hartz IV die Bedürfnisse schulpflichtiger Kinder negiert; sie sind empört über die Ansicht der Bundesregierung, dass der Schulbedarf nicht zum Existenzminimum eines Kindes zähle, das durch staatliche Leistungen sichergestellt werden muss. Unter anderem deshalb wirft das Gericht das ganze unübersichtliche System der Berechnung von Hartz IV über den Haufen. Die Regelsätze müssen nun ohne Winkelzüge neu festgesetzt werden. Jedenfalls für Kinder werden sie viel höher liegen müssen als bisher. Die Jammerei über die Kosten, die das alles verursacht, hat das Gericht vorausgeahnt. Es verweist darauf, dass der Staat seinen sozialen Pflichten auch durch Sachleistungen nachkommen kann - zum Beispiel mit einem kostenlosen Kindergartenplatz.
Schade, dass dieses große Urteil erst jetzt gesprochen wurde. Schade, dass erst fünf Jahre ins Land gehen mussten, bis festgestellt wurde: Hartz IV ist mit dem Grundgesetz unvereinbar. Schade, dass so viel politische Kraft und Energie dabei vergeudet wurde, dieses Gesetz auf Parteitagen, in Wahlkämpfen und in Abertausenden von Diskussionen zu verteidigen. Hartz IV hat die politische Landschaft, auch die parteipolitische, in Deutschland sehr verändert. Dabei wird es bleiben, auch wenn es Hartz IV nicht mehr gibt. Die Anstrengung, welche Union, SPD, FDP und Grüne bei der fünfjährigen Verteidigung dieses verfassungswidrigen Gesetzes gezeigt haben - man wünscht sie sich gerade jetzt, bei dessen grundlegender Revision.
1. Juli 2007
Auf zum letzten Gefecht
Die SPD ist nur noch eine Partei der neuen Mitte, mehr nicht. Die von den neuen Gesetzen Betroffenen ahnen noch kaum, was ihnen blüht. Wenn sie es aber merken, wird Feuer am Dach der Republik sein.
Von Heribert Prantl
Die Kürzel für den weiteren Niedergang der SPD lauten Hartz IV und Alg 2. Diese Kürzel stehen für die Entfremdung der SPD von den neuen sozialen Unterschichten der Republik; die SPD ist nicht mehr deren Partei.
Das war zwar schon längere Zeit klar, nun wird es amtlich. Die SPD kappt die Verbindung nach unten. Sie ist nicht mehr rot, sie ist allenfalls noch rosé. Mit den neuen Gesetzen, in denen nun die Langzeitarbeitslosen ins Heer der Sozialhilfeempfänger eingereiht werden, macht die SPD klar, was sie noch ist: eine Partei der neuen Mitte, aber mehr nicht mehr.
Sie ist die Partei derer, für die ein Franz Müntefering als Typus steht. Müntefering ist, denkt und handelt, so hat das der Parteienforscher Franz Walter beschrieben, wie die meisten Deutschen.
Er verkörpert das Bewusstsein des durchschnittlichen Deutschen der Mittelklasse. Dass sich das in Wahlen nicht auswirkt, liegt daran, dass die SPD unter Gerhard Schröder in einen Zustand tiefer Unsicherheit geraten ist; sie hat ihre alte Selbstgewissheit als Arbeiterpartei verloren und keine neue gewonnen.
Deshalb verliert sie nicht nur die neue Unterschicht, sondern auch die neue Mitte, die sie an sich repräsentiert. Hinzu kommt, dass der Kanzler sich lange benommen hat wie ein Pilot, der von sich glaubt, er sei so gut, dass er auch ohne Flugzeug fliegen kann. Nun bräuchte er das Flugzeug, aber es funktioniert nicht mehr richtig.
Hartz IV; Arbeitslosengeld 2, genannt Alg 2: Es handelt sich um Gesetze, mit denen die sozialdemokratische Generation der heute Fünfzig- und Sechzigjährigen ihren Aufstieg besiegelt und den Aufstieg derer verhindert, die noch immer unten stehen oder schon wieder nach unten gefallen sind.
Die SPD beendet ihr "Projekt sozialer Aufstieg". In der Zeit der Bildungsoffensive der 60er und 70er Jahre ist die SPD-Klientel in die Mittelschicht aufgestiegen. Die Kinder kleiner Handwerker und strebsamer Facharbeiter sind zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das BaföG geknüpft hat, nach oben geklettert.
Wer sich heute in den Lehrkörpern der Schulen und Universitäten, in Gerichten und Parlamenten umschaut - der sieht überall die etablierten Aufsteigerkinder.
Strickleiter einziehen
Die Spitzenpolitiker dieser Generation ziehen nun die Strickleiter ein. Die neuen Gesetze sorgen für neue Armut - bei 500.000 Langzeitarbeitslosen sofort am 1.Januar; eine weitere Million wird ihnen später in die Sozialhilfe folgen.
Die Auswirkungen von Hartz IV werden den sozialen Frieden schwer stören. Der Streit, der im Vermittlungsausschuss über die Gesetze geführt wurde, drehte sich aber nicht darum; es ging um Zuständigkeits- und Finanzierungsfragen. Die von den Gesetzen Betroffenen haben noch gar nicht kapiert, was ihnen droht.
Wenn sie es kapiert haben, wird Feuer am Dach der Republik sein, dann kann die nächste Bundestagswahl zum letzten Gefecht der SPD geraten; die Wähler werden in Massen zur Union laufen. Die wird, wie es heute aussieht, die Politik der McKinseyisierung Deutschlands noch ärger fortsetzen.
Stunde der Populisten
Die noch mehr frustrierten Wähler werden also auch der Union weglaufen, aber nicht zur SPD zurückkehren. Dann könnte die Stunde des heute noch unbekannten Populisten schlagen. Hartz IV kann der Startschuss zu dieser fatalen Entwicklung sein.
Die Grundidee mag gut vertretbar sein: Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe werden zusammengeführt. Die Ausführung ist unvertretbar. Schon die neue Bezeichnung Arbeitslosengeld 2 ist Augenwischerei; es handelt sich schlicht um bloße Sozialhilfe für die Menschen, die bisher mehr Geld, nämlich Arbeitslosenhilfe, bekommen haben; vom 1. Januar an wird es so sein, dass Arbeitslose, meist schon nach einem Jahr, in die Sozialhilfe fallen.
Das ist hart. Noch härter aber sind die Details: Arbeitslose müssen ihr kleines Vermögen (so vorhanden) verscherbeln. Die Anrechnungsvorschriften, die bisher für Sozialhilfeempfänger galten, werden nun auch auf die Arbeitslosen erstreckt - auf Leute also, die oft jahrzehntelang gearbeitet und Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlt haben.
Wer künftig in der Arbeitslosigkeit vom Staat unterstützt werden will, der muss zum Beispiel seine Lebensversicherung zum läppischen Rückkaufswert veräußern, der muss sich seine kapitalisierte Unfallversicherung anrechnen lassen, der muss, so er sich ein Häuschen erspart hat, womöglich dieses Häuschen verkaufen.
Der Sozialstaat kassiert privates Kleinvermögen von anständigen Leuten, die nichts dafür können, dass es kaum Arbeit gibt, die auch nicht schuld daran sind, dass der Arbeitsmarkt Fünfzigjährige wie Aussätzige behandelt.
Verfassungsrechtlich bedenkliche Enteignungspolitik
Eine solche Politik ist nicht sozialdemokratisch, sondern unanständig. Es handelt sich um verfassungsrechtlich bedenkliche Enteignungspolitik. Zugleich verhöhnt diese Politik ihre eigenen Empfehlungen: Sie fordert die Menschen tagtäglich auf, auch selber Vorsorge für Notfälle zu treffen; und jetzt nimmt sie ihnen bei Eintritt des Notfalls das so Ersparte weg. Die Leute werden arm gemacht - kriegen aber keinen Job.
Der Schutz des Eigentums gilt auch für das Eigentum kleiner Leute. Wenn man das der SPD nach 140 Jahren SPD-Geschichte erklären muss, wird klar, warum es dieser Partei so schlecht geht.