Karl Nolle, MdL
Märkische Allgemeine, 25.01.2002
König ohne Krönung - Eine Biographie nähert sich dem Mythos Biedenkopf
Der liebe Gott weiß alles - aber Kurt Biedenkopf weiß alles besser.
24. Januar 2002
Buchautor: MICHAEL BARTSCH
Zwei Beinamen begleiteten die Amtszeit Kurt Biedenkopfs in Sachsen: "König Kurt" und "Landesvater". Er hatte sich die schmeichlerischen Attribute nicht erarbeitet, sie sind ihm nicht nach langer, erfolgreicher Regentschaft zugewachsen. Kurt Biedenkopf musste zuvor keine Schlacht gewinnen oder sich gegen andere durchsetzen. Es passierte einfach, noch vor Amtsantritt und auf Vorschuss sozusagen. Ein Wunder halt, wie er selber meinte.
Am Rande der ersten Lesung des Einigungsvertrages im Bundestag, so notierte Biedenkopf am 6. September 1990 ins Tagebuch, hätten sich in Bonn "wundersame Dinge" ereignet. Fraktionskollegen seien überraschend freundlich zu ihm gewesen, und einige hätten ihn schon als "Kurfürst von Sachsen" betitelt. Die Wochenzeitung "Sachsenspiegel" stieß damals ins gleiche Horn, sie schrieb am 2. November 1990 nach der Ministerpräsidentenwahl: "Der Vergleich zwischen Kurt Biedenkopf und diesen populären Vorfahren an Sachsens Spitze (August der Starke - d. A.) liegt auf der Hand und wurde in der Tagespresse schon weidlich ausgeschlachtet. Tatsächlich muss man schon in die Geschichte zurückgehen, um einen ähnlichen Bonus für den Ersten im Staate konstatieren zu können." Man gewährte einen "Vertrauensvorschuß für Sachsens ›Biko‹", der kaum zu erklären, zumindest aber erstaunlich war. Chefredakteur Emil Ulischberger bemühte sich im weiteren, den Personenkult auf ein erträgliches Maß herunterzuschrauben: "Es ist uns kein neuer sächsischer König geschenkt worden, und Kurt Biedenkopf wäre sicherlich der erste, der einen solchen Vergleich mit einem freundlichen Lächeln als verfehlt zurückweisen würde." Heute drängen sich da Zweifel auf. Damals war das Lob für den Regenten wohl zugleich auch ein indirektes Selbstlob für die Sachsen. So einen bekommen nur wir! Wir haben seine wahren Stärken und Vorzüge erkannt, wozu die im Westen nicht fähig waren. Nicht einer fragte, ob Biedenkopfs Scheitern im Westen tatsächlich auf Ignoranz, Unterschätzung und Missgunst zurückzuführen war, wie man meinte. Ob es nicht auch Gründe gegeben haben könnte, die unmittelbar mit Charakter und Fähigkeiten des nunmehr Gesalbten zu tun hatten.
Vor der Nahbarkeit der Landesmutter gab und gibt es praktisch kein Entrinnen. Spontan, eher aus einem Übermaß an Gefühl agierend, vollzog sie in bedingungsloser Konkretheit, was ihr verehrter Gatte zumeist abstrakt formulierte. Wer Loriots Film "Ödipussi" gesehen hat oder selbst schwer vom Nabel seiner Mutter wegkam und von dort womöglich gleich unter die von den edelsten Absichten getragene Knute einer Schwiegermutter geriet, der hat schon eine ungefähre Vorstellung von ihr. Von jener imperativen Fürsorge, vor der jeder um seine charakterliche Unversehrtheit Fürchtende schleunigst Reißaus zu nehmen hat. Sie besitzt ein nur bestimmten Frauen eigenes und auf einem absoluten Naturrechtsempfinden basierendes Auftreten, dem weder Ministerialdirigenten noch Minister gewachsen waren. Halb Walküre, halb Mutter Teresa. Ingrid Biedenkopf führte bei ihren Interventionen neben dem schwiegermütterlichen Schild auch noch das Schwert der Drohung: "Das sage ich meinem Kurt Hans!"
Um die ersten Begegnungen der beiden hat die Boulevardpresse manch hübsche Story gerankt. Da tauchte der auch technisch begabte Kurt als Handwerker bei der Reparatur ihrer Puppenstube auf. Kilometerweit war der Zehnjährige dafür mit dem Fahrrad von Schkopau nach Leipzig gefahren. (1938 waren die Biedenkopfs mit dem gerade achtjährigen Kurt in das eben noch als sächsisch anzusehende Schkopau im Chemiedreieck Halle-Leipzig-Merseburg gezogen.) Fest steht, dass beide sich in Leipzig trafen. Ingrid war die Tochter des Fabrikanten Dr. Fritz Karl Ries. Der promovierte Jurist Ries trat 1933 der NSDAP bei und übernahm nach seinem Studium mit Hilfe seines Schwiegervaters die Leipziger Gummiartikelfirma "Flügel & Polter". Zwangsarbeiter sollen die anfangs 120 Mitarbeiter zählende Firma sarkastisch "Prügel & Folter" genannt haben.
Ries profitierte von der Arisierungspolitik der Nazis und konnte durch Übernahme ehemals jüdisch geführter Betriebe sein Unternehmen rasch vergrößern. 1941 betrug der Umsatz mit fast elf Millionen Reichsmark schon das Zwanzigfache des Jahres 1934. Die Firma war Branchenführer bei den Präservativ-Herstellern, Ries galt als deutscher "Kondom-König". Expandieren konnte er auch im besetzten Osteuropa, vor allem in Trzebinia und Lodz, er kurbelte Projekte im Baltikum, der Ukraine und Galizien an. Für die dort überwiegend beschäftigten jüdischen Zwangsarbeiter waren etwa vierzig Reichspfennig je Arbeitsstunde an den Sonderbeauftragten des Reichsführers SS zu überweisen. Das so erworbene Vermögen brachte Ries rechtzeitig vor Kriegsende in Sicherheit - teils durch Gründung von Tochterfirmen im Ausland, teils durch Grundstückserwerb wie im oberbayerischen Chiemgau, heute Land- und Feriensitz der Biedenkopfs.
Das Leipziger Polizeipräsidium hatte 1936 Fritz Karl Ries als "politisch einwandfrei und zuverlässig" eingestuft und ihn der Gestapo in Dresden als "Vertrauensmann für besondere Angelegenheiten" empfohlen. Von dort kam nur der streng vertrauliche Vermerk: "Dr. Ries als V-Mann vorsehen!" Nach Zeitungsberichten soll Fritz Ries außerdem 1934 das letzte Pistolen-Duell Deutschlands ausgefochten haben. Sein Sekundant war zugleich sein "Leibfuchs" in der schlagenden Verbindung "Suevia". Dieser avancierte wenig später zum SS-Hauptsturmführer und war Heydrich direkt unterstellt. Sein Name: Dr. Hans Martin Schleyer. Als Arbeitgeberpräsident wurde er 1977 in der Bundesrepublik von Terroristen ermordet.
Ries kam wie so viele das Naziregime tragende Industrielle in der Bundesrepublik wieder zu hohem Ansehen. 1967 erhielt er das Bundesverdienstkreuz, 1972 den Stern dazu. Gleich nach dem Krieg gründete er die Pegulan-Werke AG, Hersteller von Fußbodenbelag, mit Sitz im pfälzischen Frankenthal. Er war Hauptaktionär der RIES-Gruppe, Beiratsmitglied der Commerzbank, Aufsichtsratsvorsitzender der Badischen Plastic-Werke und königlich-marokkanischer Konsul für die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz.
Obschon 1977 gestorben, erwarb er sich gemeinsam mit Schleyer den Ruf eines "Kanzlermachers". Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl war 1973 zum CDU-Vorsitzenden und damit zum Oppositionsführer aufgestiegen. Die "Wirtschaftswoche" und das "Manager-Magazin" zitierten damals einen Ausspruch von Ries über Kohl: "Auch wenn ich ihn nachts um drei anrufe, muß er springen!"
Zweifellos darf die Tochter dafür nicht in Haft genommen werden. Was können Kinder für ihre Väter? Ein Foto auf dem Schoß des Vaters in SS-Uniform sagt nichts über die Haltung. Wohl eher, wie sich später die Tochter dazu stellte. Ein distanzierendes Wort ist nicht bekannt geworden. Im "Who ist who?" der 70er Jahre fehlte jeder Hinweis auf ihren Mädchennamen.
Auch die Presse hat in elf sächsischen Jahren nie nach dem Milieu im Hause Ries gefragt. Ob es Kurt Biedenkopf damals oder später je getan hat, wissen wir nicht. Sie sei "das erste Mädchen gewesen, für das ich schwärmte", zitierte Biograf Alexander Wendt den späteren Ehemann und Ministerpräsidenten.
1943 fand diese Schwärmerei ein jähes Ende: Die Familie Ries siedelte nach Bayern um, sie floh vor den Bombenangriffen auf das mitteldeutsche Industrierevier. Beide heirateten andere Partner.
Kurt hatte mit seiner ersten Frau Sabine vier Kinder, darunter die Fernsehjournalistin Susanne. Ingrid Ries bekam als Frau Kuhbier die Kinder Petra und Christoph. Sie studierte, erwarb ein Diplom als Handelskauffrau und arbeitete in der väterlichen Fabrik in Frankenthal.
Als eine der zahlreichen Pikanterien im Verhältnis Kohl-Biedenkopf mag gelten, dass es ausgerechnet der aufstrebende CDU-Parteivorsitzende und rheinland-pfälzische Ministerpräsident Helmut Kohl war, der der Kinderliebe von Leipzig und Schkopau zu spätem Glück verhalf. Bei einer Wahlkampfveranstaltung sollen sich beide 1974 wiederbegegnet sein. Beide ließen sich scheiden (bzw. waren geschieden) und heirateten am 27. Dezember 1979.
Das System Biedenkopf heißt eine Biographie über den scheidenden sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, die demnächst im Verlag Edition Ost (256 Seiten, 12,90 Euro) erscheinen wird. Autor des ebenso analytischen wie brillant geschriebenen Buches ist MAZ-Korrespondent Michael Bartsch. Der gelernte Ingenieur (Jahrgang 1953) lebt seit 1971 in Dresden.