Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 23.02.2002
Der Vogel hört nichts mehr
Wochenendbetrachtung von Erich Böhme: Was läßt die mächtigen am Sessel der Macht kleben?
Nicht nur wer zu spät kommt, den bestraft das Leben, sondern auch wer zu spät geht. Diepgens Abwahl von der CDU Bundestags-Kandidatur und sein Abgang aus dem CDU-Landesvorsitz sind kläglich. Biedenkopfs Abtritt vom sächsischen Thron ist kläglich. Kohls Untergang war kläglich. Alle drei konnten auf ein jahrelanges, jahrzehntelanges Erfolgsregister zurückblicken. Ein rechtzeitiger, freiwilliger, - gegebenenfalls umjubelter Abgang schien allen dreien sicher, so wie jeder gute Abgang die Übung ziert.
Allein, alle drei landeten - gemessen an ihren Leistungen unverdient übrigens – auf dem Hintern. Und dies nicht, weil die Helfer hinterlistig ihre helfende Hand hinter dem Rücken versteckten. Sie stolperten - beratungsresistent, wie das neuerdings heißt - vornehmlich über ihre eigene Sesshaftigkeit.
Was hindert die Mächtigen, nach getaner Arbeit freiwillig in eine ehrenhafte Retraite zu gehen? Was lässt sie am Sessel der Macht kleben, bis die Freund-Feinde mit den großen Sägen kommen?
Den großen britischen Kriegspremier Winston Churchill kickten seine Engländer nach errungenem Endsieg per Abwahl zu Gunsten eines bis dato und auch später eher schwachen Premiers aus Downing Street No. 10.
Den großen deutschen Nachkriegskanzler Konrad Adenauer musste die CDU samt Mobiliar aus dem Palais Schaumburg in eine karge Kemenate des Bundeshauses schleppen, von wo aus er das - sicher nicht erfolgreiche - Regieren des Nachfolgers Ludwig Erhard mit sarkastisch-bitteren Kommentaren begleitete. Den Wiedervereinigungskanzler Kohl schickten die Deutschen nach allzu langen sechzehn Jahren in die Wüste, weil sie den späten Onkel Bräsig nicht mehr ausstehen konnten.
Warum nur, warum merken die Mächtigen nicht, wann ihre Zeit gekommen ist. Schließen wir mal nachsichtig Geldgier und Machtgeilheit aus. Auch trauen wir nicht dem sarkastischen (oder doch wahren?) Churchill-Stichwort auf die Frage, was er denn nach seinem Abgang am meisten vermisse. "Transportation", sagte er gelassen. Es muss aber wohl mehr sein. Ich traue eher dem Adenauer-Satz, den er dem luxemburgischen Außenminister Beck während der Mitte seiner Amtszeit anvertraut hatte: „Mein Gott, was soll aus Deutschland werden, wenn ich einmal nicht mehr bin."
Eine ganze Menge ist aus Deutschland geworden, aber der alte Herr, auf der Höhe seiner Macht, konnte es sich nicht vorstellen. Es muss so was wie eine Suchtkrankheit sein, dass die - Mächtigen nur noch sich selber etwas zutrauen, von Nachfolgern nichts halten und sich potenzielle oder eingebildete Konkurrenz vom Leibe halten.
Hat man sie, wie einst Kohl, auf Abstand gebracht oder in die Provinz verbannt, dann verengt sich das Wahrnehmungsvermögen ganz von alleine auf die eigene Person, die eigene Leistung. Das politische Gehör versagt, ähnlich dem des Auerhahns während der Balz. Der Vogel hört nichts mehr und wird so ein leichtes Ziel des Jägers. Kohl schob seinen mutmaßlichen Nachfolger Schäuble so lange auf die lange Bank, bis er ihn demontiert hatte und sich mit.
Biedenkopf bescheinigte, in politische Atemnot geraten, seinem Ziehsohn Milbradt, er sei ein "miserabler Politiker". Die Sachsen-CDU verstieß ihren König samt Königin postwendend. Der abgewählte Diepgen nahm nicht mehr wahr, dass er eigentlich schon gar nicht mehr da war. Ja, selbst der mediokre Zaunkönig Jagoda aus der Bundesanstalt für Arbeit hielt sich, auf seinem Zahlenschrott thronend, für unersetzbar.
Oben wird die Luft dünn und die Selbsterkenntnis schwindet.