Karl Nolle, MdL
Neues Deutschland, 19.03.2002
Die Abwanderung ist weiblich, jung und klug
An den Rändern des Freistaates wird der Wegzug zum Problem
DRESDEN. Sachsen wird weiter „vergreisen“. Immer mehr Politiker überlegen, wie junge Leute im Land zu halten oder zurückzuholen sind.
Anna-Maria Hönig erhielt Post von Kurt Biedenkopf. Zu der Ehre kam die junge Sächsin, weil sie den Freistaat verlassen hat. Vier Sprachen hat sie an der Dresdner Euro-Schule gelernt, dazu einen »Computerführerschein« erworben. Jetzt arbeitet sie in Düsseldorf. Biedenkopf, 72-jähriger sächsischer Ministerpräsident, sähe sie gern wieder zurückkehren und appelliert an Heimatgefühle: »Vielleicht denken sie manchmal an die Jahre, die Sie hier verbracht haben.«
Das Beispiel der Eurosekretärin ist wohl exemplarisch. Vor allem junge, gut ausgebildete Frauen kehren Sachsen in Scharen den Rücken. Rechnet man »Ausreißer« und Neuankömmlinge gegeneinander auf, bleibt für die letzten zehn Jahre bei Frauen im Alter von 16 bis 25 Jahren eine Lücke von 69000. Insgesamt, so hat die SPD-Landtagsfraktion errechnet, zogen von 1990 bis 2000 rund 160 000 Sachsen zwischen 15 und 34 Jahren in den Westen.
Die Folge: Sachsen »vergreist«. Der Altersdurchschnitt beträgt 42,6 Jahre - der höchste in der Bundesrepublik überhaupt.
Vor allem außerhalb der Großstädte und ihrer Speckgürtel wird die Lage kritisch. Die Zurückgebliebenen sehen sich »nur noch von Hutträgern« umgeben. Klassentreffen von Nachwende-Schulabsolventen, sagt der in der Lausitz gebürtige SPD-Fraktionschef Thomas Jurk, könnten man dagegen »im Westen veranstalten«. Ernst genommen wird das Problem inzwischen parteiübergreifend, auch wenn die Ursachen des Bevölkerungsrückgangs strittig sind. Nach Ansicht von Innenminister Klaus Hardraht (CDU) beruht er »zu neun Zehnteln auf dem Geburtenrückgang und nur zu einem Zehntel auf der Abwanderung«.
Falsch, entgegnet Karl Nolle (SPD). Er hat ermittelt, dass der Wanderungsverlust das Geburtendefizit seit zwei Jahren überholt hat. Zudem besteht ein Zusammenhang: Weil die jungen Frauen weggehen, werden künftig in Sachsen noch weniger Kinder geboren.
Gegen den schleichenden Sachsen-Schwund gibt es viele Ideen. DGB-Landeschef Hanjo Lucassen regt einen »Kontakt-Pakt« an, um junge Sachsen nach Studium oder Lehre in der Fremde wieder zurückzuholen. Der SPD-Politiker Nolle fordert, die Abwanderer aus den Randgebieten wenigstens im Freistaat zu halten: »Warum zahlt das Arbeitsamt Wegzugsprämien für Umzüge nach Bayern, nicht aber, wenn es nach Dresden geht?«
Vor allem Regionen wie die Lausitz und das Erzgebirge bräuchten deutlich mehr Hilfe, meint die Opposition. Jurk von der SPD möchte dazu das Marketing und die Verkehrsverbindungen verbessern. Die PDS betrachtet auch die EU-Osterweiterung als Chance. Quasi als Vorgriff auf die Grenzöffnung schlägt der sorbische Abgeordnete Heiko Kosel vor, dass Polen und Tschechen in leer stehende Wohnungen sächsischer Grenzstädte ziehen sollten. Trotz juristischer Probleme steht die Saatsregierung dem Ansinnen nicht mehr gänzlich ablehnend gegenüber.
Kein Zweifel besteht indes darin, dass Werbung für die Lausitzer Seenlandschaften und Schnellstraßen ins Erzgebirge wenig nützen, solange dort kaum Stellen angeboten und klägliche Löhne gezahlt werden. Selbstverständlich denke sie an Sachsen zurück, antwortete Anna-Maria Hönig dem Ministerpräsidenten. Für sein Ansinnen indes sei sie die falsche Adressatin: Wenn er der Abwanderung wirklich zu Leibe rücken wolle. »dann schreiben Sie an die richtige Adresse: an die Firmen im Freistaat«, fordert die Eurosekretärin. Auf Bewerbungen habe sie in Sachsen nur Ablehnungen erhalten. Bei einer solchen Lage würden noch viele Jugendliche wegziehen, schreibt die Neu-Düsseldorferin: »Meine kleine Schwester ist mir schon gefolgt. «
(Hendrik Lasch)