Karl Nolle, MdL

TAZ - Die Tageszeitung, 15.03.1999

Vor der Wahl hat Gerhard Schroeder Briefe geschrieben: "Und weil wir unser Land verbessern wollen..."

Zehn GenossInnen wollen ihn erinnern und schicken "blaue Briefe"
 
Adenauerallee 139, 53106 Bonn - Vor der Wahl hat Gerhard Schroeder Briefe geschrieben: "Und weil wir unser Land verbessern wollen..." Nun ist er Kanzler, aber das mit dem Verbessern hat er offenbar vergessen. Zehn GenossInnen wollen ihn erinnern und schicken "blaue Briefe"



Lieber Gerhard,
dass Du einmal Jungsozialist warst, das kann ich gar nicht mehr glauben. Zu nahe stehst Du heute dem Kapital. 16 Jahre lang hat uns der Dicke gepredigt: Wenn es den Kapitalisten gutgeht, geht es auch uns gut. Ich hatte gehofft, dass sich durch Deine Wahl zum Bundeskanzler an dieser Fehleinschaetzung etwas aendert. Oskar Lafontaine, der linke Meinungstraeger in unserer SPD, war ein Garant dafuer. Schade, dass er nun die Flinte ins Korn geworfen hat. Ich habe gedacht, der Rahmen der SPD ist gross genug, damit Ihr beide Platz darin habt. Eure Bruederlichkeit, Eure Umarmungen habe ich fuer bare Muenze gehalten. Fuer mich gibt es heute noch immer nur einen Gegner: den Kapitalisten. Du musst wissen, mein Vater war linker Sozialdemokrat, bei uns im Wohnzimmer hing eine huebsche Schwarzweiss- Zeichung mit den Portraets von Bebel und Liebknecht, ich bin 1926 in die Sozialistische Arbeiterjugend und drei Jahre spaeter in die SPD eingetreten, ich war im KZ, verurteilt wegen Hochverrats. Nach der Hitlerdiktatur haben wir fuer den Wiederaufbau eines demokratischen, sozialen Staates gekaempft, fuer eine dem Gemeinwohl dienende bedarfsdeckende Volkswirtschaft ohne Kriegsindustrie. Aber es kam anders. Mit der sogenannten sozialen Marktwirtschaft und den Leistungsgesellschaftsmethoden setzen die Kapitalisten ruecksichtslos ihre reaktionaeren Mittel ein. Ich bin enttaeuscht, dass Du, Gerhard, sie dabei unterstuetzt. Dennoch: Du gehoerst in die SPD. Aber ich meine, Du solltest nicht unser Parteivorsitzender werden.

Gustav Andersdotterson, 87, Rentner, Ahrensburg



Lieber Gerhard,
Samstag, 16. Januar, Fussgaengerzone Wiesbaden. Unter der Parole "Ja zur Integration - Nein zur doppelten Staatsangehoerigkeit" ist der von der CDU organisierte Aufmarsch gegen die geplanten Einbuergerungserleichterungen der in Deutschland lebenden Auslaender in vollem Gange. Selbst die Infostand-Erfahrensten unter uns sind entsetzt: Besorgte Buerger, Uninformierte, Aufgehetzte, Ewiggestrige - nur wenige sind zu einem sachlichen Gespraech bereit. "Wo koennen wir gegen die Auslaender unterschreiben?" so die haeufigste Frage. Das Ergebnis ist bekannt. Die CDU gewinnt in Hessen, der Doppelpass bleibt auf der Strecke. Mit dem rheinland-pfaelzischen Kompromissmodell wird ein recht kleiner Schritt in die richtige Richtung gemacht, der zudem juristisch Fragen aufwirft. Fraglich ist allerdings, ob nach der Niederlage in Hessen noch mehr moeglich ist. Was ich mir von Dir, Gerhard, nun wuensche? Dreierlei. Erstens: Bei sensiblen Themen und insbesondere dem Auslaenderthema sind grosse Wuerfe gefaehrlich. Haetten wir mit dem Doppelpass nur fuer Kinder begonnen, waeren wir genauso weit wie bisher - ohne Hessen zu opfern. Zweitens: Der Grundgedanke, die Integration zu erleichtern, ist richtig. In einigen Jahren, wenn Erfahrungen mit der neuen Regelung vorliegen, gilt es, weiterzugehen. Drittens: Hunderttausende haben bei der CDU unterschrieben. "Fuer die Integration" wie der erste Teil des Textes lautete. Daran sollten wir die christlichen Demokraten erinnern - und konkrete Integrationsvorschlaege einfordern.

Marco Pighetti, 35, Stadtverordneter, Wiesbaden



Lieber Gerhard,
moechtest Du eine Karriere als Dressman starten oder endlich beginnen unser Land zu regieren? Wenn Du schon schwarze Schafe suchst, war Oskar wohl der Falsche. Beginne mit dem Suchen auf seiten der "Gruenen Regierungspartner"! Zu dem Ruecktritt von Oskar moechte ich nur soviel sagen: Hoechste Hochachtung vor seiner Konsequenz, aber sein Abgang war erbaermlich. Erbaermlich in dem Sinne, dass er es nicht einmal fuer noetig hielt, eine Erklaerung abzugeben fuer diejenigen, die die Basisarbeit in den Ortsvereinen machen. Vielleicht, Bundeskanzler Schroeder, denkst auch Du mal an diejenigen, die Eure Politik auf der Strasse erklaeren muessen. Aber dies scheint Dir egal zu sein, Hauptsache, Deine Profilierungssucht wird taeglich in irgendeiner Zeitung gestillt. Ich hoffe, nein, ich wuensche mir, dass Du endlich Deine Arbeit machst, wofuer wir Dich gewaehlt haben. Denn sonst sehe ich fuer die Kommunalwahl bei uns im Saarland nichts Gutes auf uns zukommen. Die oeffentliche Meinung, die noch vor Monaten positiv fuer die SPD war, ist mittlerweile nur noch verwirrt durch die Arbeit Deiner Regierung.

Thilo Knobe, 33, Vorsitzender Juso AG, Wehrden



Lieber Gerhard,
wie Du Dir vorstellen kannst, habe ich am vorigen Donnerstag abend einen Riesenschreck bekommen. Du fragst Dich, warum? Ich bin vor zweieinhalb Jahren in die SPD eingetreten, weil ich die Regierungspolitik der alten Koalition nicht mehr ertragen konnte. Nicht die Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosen wurden bekaempft, waehrend Grosskonzerne und das damit verbundene Kapital Rekordgewinne feierten. Der Dax stieg, wenn eine Firma Massenentlassungen ankuendigte. Einschnitte wurden nur bei denen gemacht, die keine Lobby hatten: bei den Arbeitslosen und ganz besonders bei den Langzeitarbeitslosen. Da ich selber einer von denen bin, sagte mir Euer Kurs und ganz besonders der Kurs von Oskar Lafontaine, dem "sozialen Gewissen unserer Partei", sehr zu. Ich hoffte, endlich wuerde auch die Industrie in ihre soziale Pflicht genommen werden. Dass diejenigen, die gewohnt waren von der alten Regierung hofiert zu werden, ein furchtbares Wehgeschrei anstimmen wuerden, war uns allen klar. Abschliessend, lieber Gerhard, moechte ich Dir sagen: Vergiss bitte nicht Deinen und Oskar Lafontaines anfaenglichen Kurs und werde nicht zum Schmusekanzler fuer die Herrn Henkel und Hundt.

Michael Wilberz, 42, studierter Langzeitarbeitsloser, Radolfzell



Lieber Gerd,
manchmal sind Erfahrungen nicht billiger zu haben, auch wenn im Moment der Preis sehr hoch erscheint. Als frueherer Weggefaehrte von Dir moechte ich Dir Mut machen, die Chance zu nutzen, nun eindeutige Weichenstellungen zur Reform der Politikfaehigkeit der Partei und des Kurses der Bundesregierung zu unternehmen. Reisse entschlossen das Ruder herum, fuer den ueberfaelligen Aufbruch aller gesellschaftlichen Gruppen, zur Reform von Wirtschaft und Gesellschaft unter Deiner Fuehrung! Nur Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Wertschoepfung schaffen uns die Basis fuer Solidaritaet und soziale Gerechtigkeit. Das erfordert einen radikalen Wandel unserer Partei, weg von den ueberholten Traditionalismen. Eine Regierungspartei, die erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreiben will, muss zuallererst diese Kompetenz entwickeln, auch wenn das noch quer zu vorherrschenden traditionellen Befindlichkeiten geht. Dir, Gerd, moechte ich mit auf den Weg geben: So stark, wie Du jetzt bist, wirst Du kuenftig kaum sein.

Karl Nolle, 54, Unternehmer, Dresden




Lieber Gerhard,
es wird nicht leichter werden nach Oskars Ruecktritt von allen Aemtern, aktiv Gleichstellungspolitik in Europa durchzusetzen. Wir wissen aber, dass Du den Weg freigemacht hast fuer einen formellen Frauenministerrat; wir wissen, dass Du der neuen Politik des Gender- Mainstreaming, also der Verankerung von Chancengleichheit in allen Politikbereichen, zustimmst. Wie immer aber steckt auch hier der Teufel im Detail. Und wir, die Frauen der SPD-Europafraktion, erwarten von Dir volle Rueckenstaerkung. Das Arbeitspensum noch unter Deiner Ratspraesidentschaft ist enorm: von Agenda 2000 ueber verbesserte Partizipation von Frauen im Arbeitsmarkt und in Fuehrungspositionen bis hin zur Verabschiedung des Antigewalt-Programms "Daphne". Aber wir brauchen auch einen Kanzler, der den Wunsch der Waehlerinnen nicht aus den Augen verliert.

Lissy Groener, 44, frauenpolitische Sprecherin der Sozialdemokraten im Europaeischen Parlament



Lieber Gerhard,
nach der Bundestagswahl war Rot-Gruen fuer viele Frauen eine Perspektive, mit der sie konkrete Vorstellungen verbanden: die Wahl von Frauen in Fuehrungspositionen, Platz in der politischen Aussendarstellung und ein Ende der unertraeglichen One-Man-Show und des patriarchal-hierarchischen Machtbegriffs. Leider ist meine Erfahrung nach knapp sechs Monaten Regierung eine andere. Sie hat schon jetzt erste Opfer gefordert. Nicht eines der wichtigsten Aemter ist mit einer Frau besetzt. Auch das vorherrschende Verstaendnis von Macht schadet den Frauen. Ich bin damit sehr unzufrieden. Zwar erklaert der Koalitionsvertrag Gleichstellung zu einem Schwerpunkt, doch Regierung und SPD uebergehen legitime Forderungen der Frauen. Dazu traegt auch Dein Eindruck in der Oeffentlichkeit als medienerprobter Machtstratege bei. Ich moechte Dich bitten, vor der eigenen Tuer anzufangen und kritisch ueber Dein Verstaendnis von Macht zu reflektieren - auch wenn bei der Besetzung der Spitzenfunktionen schon alles gelaufen ist. Gleichstellung bedeutet immer auch einen Machtverlust fuer Maenner. Die Unzufriedenheit ueber die unerfuellten Forderungen der Frauen und vor allem der Sozialdemokratinnen wird irgendwann deutlich zutage treten. Es waere bedauerlich, wenn ich mir eingestehen muesste, dass die Partei eher Rueck- als Fortschritte gemacht hat. Die Menschen brauchen keinen Machokanzler, keinen starken Mann. Sie brauchen einen, der ihre Interessen vertritt. Fuer einen Sozialdemokraten muss das auch heissen: die Interessen der Frauen beachten.

Sonja Wild, 21, Studentin der Politologie, Nuernberg



Lieber Gerhard,
der Ruecktritt von Oskar hat mich als Gewerkschafter tief betroffen gemacht. Mit ihm hat unsere SPD und die Regierung einen herausragenden Politiker verloren, der inhaltlich das Projekt verkoerperte, wofuer der Deutsche Gewerkschaftsbund vor der Bundestagswahl eingetreten ist - einen Politikwechsel fuer mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit, eine Politik, die dem herrschenden Wirtschaftsliberalismus Paroli bieten sollte. Inzwischen aber mache ich mir grosse Sorgen, dass das Trommelfeuer der Wirtschaftslobby und der konservativen Presse nachhaltig Wirkung zeigt; mache ich mir grosse Sorgen, dass die Regierungspolitik immer staerker dem Druck aus dem Unternehmerlager nachgibt. Als Gewerkschafter und Sozialdemokrat koennte ich einen solchen Kurswechsel nicht mittragen. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wuerde sich schnell von Dir als Kanzler und von Deiner Regierung abwenden, wenn sie feststellen muesste, dass ihre Interessen zu Gunsten einer "wirtschaftsfreundlichen Politik" geopfert werden. Ich hoffe und erwarte von Dir, Gerhard, dass Positionen, wie Oskar sie verkoerperte, in der Regierung und in unserer Partei auch zukuenftig eine politische Heimat haben und Gehoer finden. Ich bitte Dich deshalb nachdruecklich, auch nach dem Ausscheiden von Oskar aus der Bundesregierung eine Politik fuer alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu betreiben.

Rainer Bliesener, 48, Vorsitzender des DGB-Landesbezirks Baden-Wuerttemberg



Lieber Gerhard,
der Parteivorstand hat Dich fuer den Parteivorsitz nominiert. Vor Deiner Wahl im April also nutze ich die Gelegenheit, drei Wuensche an Dich zu aeussern. Lass' Dich in dem Ziel - Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit und Staerkung der wirtschaftlichen Entwicklung - durch innerparteiliches Tauziehen nicht beirren. Beides, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung, bedingen einander. Zweitens: Die neuen Bundeslaender benoetigen noch lange die Solidaritaet der alten Laender, dazu gehoert nicht nur der Solidarbeitrag. Die Sozialdemokratische Partei ist als einzige Partei in der Lage, die Vereinigung Deutschlands positiv zu vollenden. Gib' der Partei dazu neue Impulse! Und drittens: Lass' die Finger von der PDS. Die Mitglieder der umbenannten SED sind mehrheitlich noch nicht in unserem demokratischen Rechtsstaat angekommen. Das belegen gerade viele neuere Aeusserungen. Die aelteste demokratische Partei in Deutschland, also unsere SPD, darf der PDS nicht zur Machtbeteiligung in der Bundesrepublik verhelfen.

Helmut Fechner, 64, Mitglied des Gespraechskreises "Neue Mitte", Berlin-Treptow



Lieber Gerhard,
ich wuensche mir, dass Du die Wirklichkeit westdeutscher Modefotografie nicht fuer die einzige Wirklichkeit in Deutschland haeltst. Es gibt noch andere Wirklichkeiten, vor allem hier bei uns in Ostdeutschland. Und die haben nicht soviel mit Kaschmir-Maenteln zu tun, wie mancher im Westen vielleicht denkt. Natuerlich wird sich die traditionsreiche deutsche Sozialdemokratie daran gewoehnen, dass sie jetzt von einem Dressman gefuehrt werden soll. Sie hat auch nichts dagegen, es ist ja ein moderner Beruf. Und Dein Kaschmir-Mantel, Gerhard, steht Dir sehr gut. Aber vergiss nie: Moden kommen und gehen - die Sozialdemokratie bleibt bestehen. Und mit ihr die Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidaritaet. Auf diesen Feldern wollen wir, die wir das Volk sind, Fortschritte sehen. Niemand hindert Dich jetzt.

Siegfried Friese, 55, Mitglied des Schweriner Landtages

(Reportage - Die Tageszeitung)