Karl Nolle, MdL

Radio Mephisto Leipzig UKW 97.6 MHz, gesendet 28.4.03, 9.00 Uhr, 07.05.2003

"Unsere Erfahrungen und Visionen nicht für ein Linsengericht aufgeben"

Radiointerview mit Karl Nolle zur Agenda 2010
 
Moderator: Thomas Mattsche, Radio Mephisto - Gast: Karl Nolle, Wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD Landtagsfraktion in Sachsen.

Moderator: Herr Nolle, was müsste passieren, damit Sie die „Agenda 2010“ unterstützen?

Karl Nolle: Nun, das Wesentlichste ist, aus meiner Sicht als ostdeutscher Politiker, dass wir auf keinen Fall Kaufkraft im Osten abschöpfen dürfen. Wenn wir, durch die Sparmaßnahmen, die jetzt prognostiziert sind, Kaufkraft abschöpfen, also in erheblichen Maße Geld aus dem Wirtschaftskreislauf im Osten rausziehen, dann würden wir hier im Osten zusätzliche Arbeitslosigkeit schaffen und nicht Arbeitslosigkeit abschaffen.

Moderator: Das Mittel, dass heißt Arbeitslosengeldkürzung, Lockerung des Kündigungsschutzes – das stört Sie nicht?

Karl Nolle: Natürlich ist es so, dass man auch fragen muss, ob hier tatsächlich soziale Ausgewogenheit stattfindet. Ich bin schon der Meinung, dass man sich auf solche einschneidende Kürzungen nur dann verständigen kann, wenn tatsächlich alle Schichten der Gesellschaft, die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Schwachen und die Starken nach ihrer tatsächlichen Leistungsfähigkeit belastet werden. Dies ist gegenwärtig bei dem Konzept noch nicht zu sehen. Was bisher festgeschrieben ist, sind Kürzungen bei Arbeitslosen- und Arbeitslosenhilfeempfängern und neue Belastungen von Kranken. Aber bei den Starken der Gesellschaft, bei den Reichen, den Superreichen und bei den großen Konzernen – passiert nichts. Und das ist eine Schieflage, die ich nicht akzeptieren kann.

Moderator: Das wollte ich gerade sagen, denn weil jetzt bei dem Versuch Aktien zu besteuern, wurde jetzt praktisch am Wochenende wieder zurück genommen. Warum ist das so gelaufen?

Karl Nolle: Es geht bei der Frage ja nicht nur um Aktienbesteuerung, sondern überhaupt um Besteuerung von Vermögen. Es geht um die Frage, ob tatsächlich nicht z.B. auch auf Erträge aus Kapital, Vermietung und Verpachtung, Beiträge an die Sozialversicherung abgeführt werden sollten. Die Belastung des Faktors Arbeit mit allen sozialen Kosten der Gesellschaft hat ja dazu geführt, dass wir im Grunde genommen für diesem Bereich immer zahlungsunfähiger werden. Bei den Steuereinnahmen müssen auch andere Bereiche hinzu genommen werden. Dazu gehört Vermögenssteuer, dazu gehört Erbschaftssteuer, dazu gehört alles das, was mehr Geld in die Kassen des Staates bringt. Das soll im Konsens passieren. Da sollen die Reichen doch selber sagen, welchen Beitrag sie selber leisten wollen. Es gibt ja sogar eine Inititative von Millionären für die Vermögenssteuer. Aber daß die sich üblicherweise da raushalten, daß finde ich nicht okay.

Moderator: Ja, warum schafft es eine sozialdemokratische Partei nicht, genau diese Steuern einzutreiben und schafft es aber auf der anderen Seite bei den Arbeitnehmern, bei den weniger Verdienenden – dort abzuzocken? Warum ist man auf der anderen Seite nicht so genauso konsequent beim Einziehen der Steuern?

Karl Nolle: Ich sag mal, die Politik entwickelt sich heute immer mehr zu einem seelenlosen Pragmatismus und es besteht die Gefahr, dass sie selber ihre eigenen Visionen, aus denen heraus sie ihre Existenzberechtigung schöpft, untreu wird und sie vergisst. Die SPD findet den Kern ihrer Grundwerte und ihre Existenzberechtigung historisch in den Begriffen Solidarität und Soziale Gerechtigkeit.

Diese Ideale in konkrete Politik umzusetzen, macht, wie man sieht, offensichtlich immer mehr Probleme und offensichtlich ist es sogar immer schwieriger geworden dieses auch nur zu diskutieren.

Wir unterliegen heute einem gewurschtelten Pragmatismus, der von heute auf morgen denkt. Jeden Tag wird ein anderes Haustier durchs Dorf getrieben. Was fehlt, ist ein Gesamtkonzept und Erklärungen, mit welchen Wirkungsmechanismen denn nun welche Ziele erreicht werden können. Und zu einem Gesamtkonzept gehört eben auch, dass alle Seiten gerecht nach ihrer Leistungsfähigkeit belastet werden und wenn das nicht passiert, dann kann man von einem ausgewogenem Gesamtkonzept nicht reden und Erfolg kann das nicht haben.

Moderator: Daraus geschlossen, ist für Sie die Parteispitze der SPD noch tragbar?

Karl Nolle: Ich glaube, dass man sich machtpolitisch durchsetzen wird, wie immer. Ich glaube, dass der Sonderparteitag mit großer Zustimmung enden wird. Niemand wird das Risiko des angedrohten Liebesentzuges eingehen wollen. Aber autoritärer Durchmarsch und Bastapolitik fällt irgendwann den Urhebern auf die Füße. Und eines ist klar, damit ist die Seele der Partei nicht zufrieden zu stellen. Ich denke, dass es weiter geht, das die Fragen weitergehen und weitergehen müssen, danach, was bedeutet eigentlich Solidarität und Soziale Gerechtigkeit heute und wie können wir vermeiden oder verhindern, dass unter dem Vorwand notwendiger Reformen verbriefte und erkämpfte Rechte gleich mit abgeschafft werden. Ökonomie ist sehr wichtig, ist eben aber nicht alles.

Ich persönlich denke bei dieser Diskussion auch immer an meine Urgroßeltern – Warum diese eigentlich damals, vor 115 Jahren, in die SPD eingetreten sind und ich muss sagen, ich persönlich bin nicht bereit, meine und unsere historischen Erfahrungen und Visionen, die ja auch was mit meinen Großeltern und Urgroßeltern zu tun haben – für ein Linsengericht aufzugeben.

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