Karl Nolle, MdL
Freie Presse, 10.07.2003
Ein Stoff, der die Demokratie verhöhnt
In einer bayerischen Fabrik wird klar, warum die Menschheit auf den Filz gekommen ist - Er entsteht natürlich und hinterlässt keinerlei Spuren
Hof/Dresden/Berlin. Filz ist überall, sagt Dieter Huber. Dieser Mann muss es wissen. Denn er ist Geschäftsführer der bayerischen Wollfilzfabrik, kurz BWF genannt. Sein Büro befindet sich in einem imposanten Backsteingebäude, das wildromantisch am Fuße der Saale liegt, in Hof, etwas abseits der Stadt. Und es befindet sich über großen Hallen, in denen feuchte Luft zur Decke steigt und es nach einer Mischung aus Waschküche und Stall riecht. Seit 1892 wird hier jener Stoff hergestellt, der die Welt verändert: Filz.
Denn Filz existiert in zwei Variationen: In der sichtbaren Form, die hier in der BWF hergestellt wird. Zu dieser Gruppe gehört Filz für Klaviertasten, für Ölfilter im Dieselmotor, für Matratzen im Bett, für Filter von Industrieanlagen, für den Polierer beim Zahnarzt, für Pantoffeln und für Schlapphüte. Daneben gibt es die unsichtbare Version. Sie verbreitet sich wie ein Virus über Deutschland und die Welt. Gemeint ist Politfilz, den es freilich in ebenso zahlreichen Ausprägungen gibt: Partei- und Vereinsfilz, Schirmherrschafts-Filz, Finanz-Filz, Universitätsfilz, Baufilz. Alle tun es: Unternehmer mit Politikern, Privatpersonen mit Beamten, Ärzte mit Labors.
Wann sind die Menschen auf den Filz gekommen? Für Manager Huber steht fest, dass Filz das älteste Netzwerk der Welt ist. Er und andere vermuten die Filzentdeckung in der Arche Noah. Hier war der Platz knapp, die Schafe schwitzten, ihnen fiel die Wolle aus. Als Noah nach 40 Tagen die Tiere wieder frei ließ, entdeckte er im Stall eine Matte. Die Wolle war mit warmen Urin getränkt und durch permanentes Treten und Trampeln zu Filz geworden.“Ganz sicher ist man sich der Geschichte nicht“, räumt Huber ein. Denn der Stoff verrottet im Laufe der Jahrhunderte, so dass Archäologen nichts finden.
Festzuhalten sind also zwei Merkmale. Erstens: Filzen ist ein natürlich-biologischer Prozess. Und zweitens: Filzen hinterlässt langfristig keine sichtbaren Spuren.
Beides gilt auch für Politfilz. Dieser entwickelt sich natürlich, denn jeder Mensch pflegt Beziehungen. Ohne diese kann keiner leben. Schon bei Noah galt: Ohne Verbindungen war kein Raufkommen auf die Arche. Wen Noah nicht liebte, den nahm er nicht mit. Der moderne Mensch nun hat Klassenkameraden, knüpft später Beziehungen zu Studenten. Diese Bindungen an die Altersgefährten sind die stabilste Grundlage für langfristige Beziehungen - und die Basis für Filz. Filz bildet sich, wenn einzelne ihre Kontakte nutzen, um sich auf Kosten des Gemeinwohls Vorteile zu verschaffen.
Weil Politfilz auf - für sich genommen - harmlosen Kontakten beruht, hinterlässt er keine sichtbaren Spuren. Wenn etwa ein Landtagsabgeordneter sich in einem Sportverein mit dem Chef einer Müllfirma trifft und nackig unter der Dusche bespricht, dass die Müllfirma seinen Wahlkampf finanzieren soll, schreibt keiner von beiden ein Protokoll darüber. Offiziell treffen sie sich ja nur als Sportler.
Watteweich bis bretthart
Müllfirma finanziert Wahlkampf - das allein macht freilich noch keinen fertigen Filz. Die Herstellung ist, wie man in Hubers Fabrik sieht, sehr aufwändig. An den Wollfasern befinden sich Schuppen. Die Fasern werden mit Dampf befeuchtet. Das bewirkt, dass die Schuppen sich von der Faser spreizen. Sie verhakeln sich miteinander. Dann wird gedrückt, gestampft und gerieben. Es bildet sich die Struktur des Filzes.
Der Abgeordnete muss sich auch verhakeln, muss drücken und drängen, will er einen stabilen Filz. Wofür muss er also sorgen, wenn in seiner Stadt ein Großprojekt für Müllfirmen in Auftrag gegeben wird? Er muss Parteifreunde an den maßgeblichen Stellen bewegen, dass der Auftrag an seinen Freund geht, der mit ihm unter der Dusche stand. Eine Hand wäscht die andere. Ein Standardsatz aus der Filztheorie. „Filz kann watteweich bis bretthart sein“, beschreibt Huber die Eigenschaften „seines“ Stoffes. Flaumig weich fassen sich die Filze für Hühneraugenpflaster an. Knochenhart sind dagegen jene Filz-Schleifblätter, mit denen die Brillengläser geschliffen werden. „Je länger die Wollfasern gedrückt und geknetet werden, desto härterer Filz entsteht“, erläutert Huber. Je länger ein und die selben Menschen eine Stadt, ein Bundesland oder Deutschland regieren, desto mehr verfestigt sich ihr Filz.
Kann man Filz entfilzen? „Nur sehr weiche Filze“, sagt Huber. Bestenfalls Hühneraugenfilz kann man so entflechten, dass am Ende noch etwas übrig bleibt. Huber: „Brettharter Filz zerfällt in Staub, versucht man ihn aufzulösen.“
Diese Kenntnis der Filzmorphologie mag dazu beigetragen haben, dass sich jüngst Sachsens Ministerpräsident nicht dazu entschließen konnte, ein Kabinettsmitglied zu entlassen, das zu Unrecht Flutgelder kassiert hatte. Der Regierungschef fürchtete wohl, da könnte jede Menge wie Filz zu Staub zerfallen, wenn er eine Verhakelung löst. Immerhin regiert seine Partei, die CDU, in Sachsen seit 13 Jahren. Da konnte der Filz steinhart werden.
Doch die Härte ist nur eine von vielen beeindruckenden Eigenschaften. In den Hallen der BWF finden sich Filze in allen Farben. Am Eingang ein Stapel leuchtend roter Filzrollen. „Für die Japaner. Die benötigen Filzmatten für die Teezeremonie“, verrät Huber. Daneben liegt grüner Filz zum Basteln. In der nächsten Halle stapelt sich schwarzer und grauer Pantoffelfilz. „Filz färbt sich in alle Farben“, sagt Huber und verweist darauf, dass nur ökologisch verträgliche Farben Verwendung finden.
Die Fabrik liefert die Filze aber nicht nur nach Japan. Filzen ist international. So benutzen die Bayern nur Schafwolle aus Australien und Südafrika. Wegen der Qualität, sagt Huber. Die Merinoschafwolle aus diesen fernen Ländern sei einfach besser als die hiesiger Heidschnucken. Der Grund? „Das andere Klima, schöneres Wetter, besseres Futterangebot ...“ zählt Huber auf.
Angespannte Filzmarktlage
Reisen gehört auch zum Politfilz. Sächsische Polittouristen, etwa vom Ausschuss für Wirtschaft. Arbeit, Technologie und Tourismus, müssen Kontakte in alle Welt knüpfen und interkontinentale Wirtschaftsbeziehung pflegen, etwa mit Amerika. Weitgehend verborgen blieb allerdings, was sie aus St. Petersburg, Japan und Amerika mitbrachten.
„Die Marktlage ist angespannt“, sagt Filzmanager Huber. Sein Unternehmen könne nur expandieren, in dem neue Märkte erschlossen werden. Huber spricht nicht von einem Verdrängungs-, sondern vom Vernichtungswettbewerb. Nur noch drei Filzfabriken existieren in Europa. „Unsere Spezialität ist, dass wir die Stärke eines Filzes auf den Zehntelmillimeter vorher bestimmen“, ist Huber zufrieden. Zufrieden, auch weil die Fabrik in den letzten Jahren den Umsatz verdoppelte.
Als besonders erfolgreich gelten auf der Polit-Bühne jene Filzer, die politische Netze mit finanzwirtschaftlichen Netzen verbinden. Beispiel: kommunale Kreditinstitute. Deren Vorstände werden durch die Oberbürgermeister oder Landräte im Aufsichtsrat kontrolliert. So weit nur kontrolliert wird, so gut.
Es bleibt aber nicht bei der Kontrolle. So hat in Sachsen einen Bauunternehmer vor kurzem einen Bürgermeister, einen Landrat und den Ministerpräsidenten auf 105 Millionen Euro Schadenersatz verklagt. Dem Firmenchef war ein Kredit bewilligt worden. Später sperrte seine Bank aber die Konten. Der Unternehmer sagt, dies geschah auf Drängen des Bürgermeisters und des Landrates, weil der Unternehmer Probleme mit dem Bürgermeister bekommen hatte. Der Unternehmer zog in Sachsen vor Gericht - ohne Erfolg. Inzwischen wird nicht mehr im Freistaat prozessiert. Verhandelt wird in Konstanz. Weil in Sachsen, wie der Bauchef meint, der Filz auch die Justizkreise erfasst hat.
Die Frage ist nun, verdrängt der Filz die Demokratie? Herrscht Verdrängungswettbewerb? Oder gar ein Vernichtungswettbewerb, wie ihn Huber für die Filzbranche beschreibt?
(Eva Prase)
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Anmerkung von Karl Nolle: Der Bauunternehmer, der den Freistaat auf 105 Millionen Schadensersatz veklagt ist Heribert Kempen, der Bürgermeister heißt Thomas Eulenberger aus Penig und der Landrat des Landkreises Mittweida ist Andreas Schramm, der wiederum (zusammen mit Eulenberger) im Verwaltungsrat der Kreissparkasse Mittweida sitzt, er als Vorsitzender des Verwaltungsrates und Eulenberger als Mitglied des Verwaltungsrates. So schließt sich der Kreis)