Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, Seite 1, 23.08.2003

Neue Wende im Osten

Studie sagt dramatischen Mangel an Lehrlingen für 2006 voraus
 
Vielleicht noch drei Jahre Zeit haben die ostdeutschen Unternehmen, um sich auf die neue Lage einzustellen, höchstens. So hat es der Chemnitzer Wirtschaftssoziologe Michael Behr errechnet. Wenn die Firmen bis dahin nicht vorsorgen, dürften sie in eine Notlage geraten, die aus heutiger Sicht nahezu aberwitzig erscheint. Weil es nicht mehr genug junge Menschen im Osten gibt, wird die Wirtschaft – nach den Berechungen des Soziologen – schon von 2006 an mit Nachwuchsmangel zu kämpfen haben. „Es droht eine Lehrlingsknappheit“, warnt Behr. Ausgerechnet dem Ost-Arbeitsmarkt, der heute von bedrückender Lehrstellenknappheit und Rekordarbeitslosigkeit geprägt ist, könnten bald die Mitarbeiter ausgehen, was die Unternehmen im Osten weiter schwächen würde.

Zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres hat Behr sich in Dresden an die Öffentlichkeit gewandt, um die Wirtschaft zu einer ausreichenden Vorsorge zu mahnen. Andernfalls könne ein Mangel an Fachkräften die Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft gefährden. Was der Chemnitzer Soziologe unter dem Stichwort „demografische Falle“ vorrechnet, klingt auf den ersten Blick realitätsfremd. Denn tatsächlich fehlen gerade jetzt im Osten so viele Lehrstellen wie nie zuvor. Doch schon 2006 wird sich etwa in Sachsen – in den anderen neuen Ländern ist es nicht anders – die Zahl der potenziellen Lehrlinge nahezu halbieren. Der Abwärtstrend setzt sich in den folgenden Jahren fort.

Die niedrige Zahl der Schulabgänger kommt nicht überraschend, in ihr spiegelt sich die nach 1989 im Osten dramatisch gesunkene Geburtenrate wider. Zudem sind auch viele Kinder mit ihren Eltern abgewandert, die im Westen Arbeit annahmen. Der Nachwuchsmangel wird die Unternehmen laut Behr besonders hart treffen, weil in den folgenden Jahren besonders viele Mitarbeiter das Rentenalter erreichen werden. Zugleich rechnen die Unternehmen bis 2010 mit steigendem Personalbedarf – so hat Behr es bei einer Umfrage im prosperierenden verarbeitenden Gewerbe Südwestsachsens ermittelt.

Behr hat deshalb gemeinsam mit dem sächsischen SPD-Wirtschaftspolitiker Karl Nolle an die Unternehmen appelliert, „auf Vorrat auszubilden, wenn sie in den nächsten Jahren nicht in große Probleme kommen wollen“. Behr und sein Team besuchen vor allem in Südwestsachsen Unternehmen, um sie für die Probleme zu sensibilisieren. Doch er weiß aus seinen Studien über Firmen in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, dass viele Geschäftsführer sich in einem Dilemma befinden: „Sie erkennen das Problem, aber wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage leisten sie sich es jetzt nicht, Jüngere einzustellen oder weiter zu beschäftigen.“

Dabei zeichnet sich, nicht nur nach seinen Erkenntnissen, in den wichtigen Wachstumsbranchen des Ostens schon jetzt ein Fachkräftemangel ab. Behr weiß von Firmen im Vogtland zu berichten, „die ältere Gesellen und Ungelernte nicht beschäftigen können, weil sie die Konstrukteure nicht finden“. Schon bald könne dies – so sein Worst-Case-Szenario – ein typischer Fall sein. Dann gäbe es im Osten zugleich eine hohe Arbeitslosigkeit bei Ungelernten und Älteren, in deren Ausbildung die Unternehmen nicht mehr investieren wollen, und dramatische Engpässe bei den Fachkräften.
(von Jens Schneider)