Karl Nolle, MdL
DIE WELT, 24.01.2004
Ostländer: Bund soll Entschädigung übernehmen
Unsicherheit nach Straßburger Urteil
Berlin - In den Ministerien für Landwirtschaft insbesondere in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt war gestern die Hölle los. Nach dem unerwarteten Richterspruch aus Straßburg, dass die Enteignungen von Neubauern mit ihren Grundstücken aus der Bodenreform von 1945 zwar rechtsmäßig, die ausgebliebenen Entschädigungszahlungen aber unzulässig seien, wird in den zuständigen Behörden Kassensturz gemacht. Unter der Voraussetzung, dass die Bundesregierung nicht von ihrem Revisionsrecht Gebrauch macht, können auf die neuen Bundesländer Entschädigungsforderungen zukommen, die in die Milliarden gehen.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) will im Falle von Entschädigungsforderungen den Bund in die Pflicht nehmen. Da es sich bei der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beanstandeten Regelung um ein Bundesgesetz handele, müsse sich auch der Bund an der Schadensbeseitigung beteiligen, sagte Böhmer in Magdeburg. Er mahnte eine bundesweit einheitliche Regelung zur Entschädigung an. Bund und Länder müssten einen Kompromiss finden. "Es muss damit gerechnet werden, dass Kosten in nicht kalkulierbarer Höhe auf die neuen Bundesländer zukommen", sagte Böhmer. Um die juristischen Probleme einheitlich zu regeln, müsse ein drittes Vermögensrechtsänderungsgesetz auf den Weg gebracht werden.
Thüringens Agrarminister Volker Sklenar (CDU) sieht ebenfalls in erster Linie den Bund in der Pflicht. Die Konsequenzen des Urteils bleiben allerdings noch unklar. Nach Angaben des Bundesjustizministeriums wird noch geprüft, ob die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes angefochten wird. Mecklenburg-Vorpommerns Agrarminister Till Backhaus (SPD) sagte, das Gesetz von 1992 sei Folge einer "gravierenden Fehlentscheidung der damaligen Bundesregierung".
Die Regierung des früheren DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow hatte den Landerwerb in einem Gesetz vom März 1990 bestätigt. Der Bundestag entschied 1992 aber, dass sie die Immobilien verlieren, wenn sie nicht in der Landwirtschaft tätig sind. Modrow sieht das Urteil als Bestätigung seiner Politik. Er habe eine Rechtsgrundlage schaffen wollen, um Interessen der DDR-Bürger zu vertreten, sagte er in Berlin.
Indes rechnet man in Sachsen-Anhalt etwa mit 18 200 Antragstellern. So viele Enteignungen hat es in etwa seit In-Kraft-Treten des Vermögensrechtsänderungsgesetzes von 1992 gegeben. "Das betrifft eine Fläche von etwa 26 000 Hektar", heißt es aus dem Landwirtschaftsministerium. In Mecklenburg-Vorpommern ist von 3500 Betroffenen die Rede, die auf einer Fläche von etwa 30 000 Hektar verteilt sind. An Sachsen wurden laut Finanzministerium rund 11 500 Hektar unfreiwillig übertragen. In Thüringen sind an die 2200 Neubauern oder Erben von Bodenreformland betroffen. Es geht um 1662 Hektar. Brandenburgs Landwirtschaftsministerin Dagmar Ziegler (SPD) will am kommenden Dienstag über das zu erwartende Ausmaß für die Landeskasse informieren. Belaufen sich erste Schätzungen möglicher Kosten für Bund und Länder auf etwa eine Milliarde Euro, geht der Bauernverband von anderen Prognosen aus. "Bei mehr als 100 000 Hektar bewegt sich die Summe eher unter einer Milliarde Euro", sagte Bauernpräsident Gerd Sonnleitner. Das Urteil schaffe nach Ansicht des Bundesverbands Deutscher Landwirte Vertrauen in die Justiz. Allerdings rechne niemand damit, dass es bei einer Einigung auf Entschädigung vor 2005 zu ersten Zahlungen kommen werde. Die fünf Kläger, die in Straßburg einen Anspruch auf Entschädigung zugesprochen bekommen haben, wollen in erster Linie ihre Grundstücke zurückhaben. Rechtsanwältin Beate Grün sagte der WELT, eine Entschädigung sei nur die letzte Möglichkeit der Wiedergutmachung.
(von Frank Diering)