Karl Nolle, MdL
Frankfurter Rundschau, 27.07.2004
Fahrlässiges Spiel (mit einem wirtschaftlichen Erfolgsmodell )
Kommentar von Wolfgang Storz
Das sei Verbandsgegacker, sagt der Kanzler zu den Kämpfen um die Arbeitszeit. Gerhard Schröder hat mit all diesen, in seinen Augen ideologischen, Streitereien nichts zu tun. Sagt er. Denkt er vielleicht auch. Wenn, dann irrt er gleich zwei Mal: Es geht nicht um Gegacker, sondern um Grundsätzliches. Und seine Regierung trägt Verantwortung für das harte Auftreten der Konzernmanager.
Von Regierung wie Wirtschaft geht das Signal aus: Wir nehmen weniger Rücksicht. Im einen Fall auf sozial Schwache, im anderen auf Arbeitnehmer und Betriebsräte. Hartz IV und das Begehren nach der 40-Stunden-Woche lösen zusammen eine Dynamik aus, welche die Kultur der sozialen Partnerschaft in Gefahr bringt. Ungeplant, von den Rot-Grünen vermutlich ungewollt. Aber das eine befördert das andere.
Viele Schritte wurden zurückgelegt, bis die Politik bei Hartz IV angelangt war: der Verzicht auf das Bündnis für Arbeit; die faktische Abschaffung des Arbeitsministeriums; das Signal der regierenden SPD an die Gewerkschaften: Wir brauchen Euch nicht mehr; der nie dementierte unterschwellige Verdacht, Empfänger von Sozialleistungen seien latent arbeitsunwillig, weshalb sie zur Jobaufnahme genötigt werden müssten. In einem solchen Klima verdorren sogar gute Ideen. So stand bei Hartz IV am Anfang ein vernünftiges Prinzip: Der Staat solle seine Ressourcen bündeln, um Langzeitarbeitslosen wirksamer als zuvor zu helfen. Das Ergebnis: Praktisch werden die Betroffenen gefordert - sie erhalten weniger Geld, sind gezwungen, niedrigste und niedrigst bezahlte Arbeit anzunehmen -, gefördert werden sie jedoch nur in der Theorie. Denn dafür gibt es (bisher) weder Geld noch Personal. So geht von Hartz IV das Signal aus: Dieser Teil der Gesellschaft ist mehr Anstrengungen nicht wert.
Dahinter steckt ein Denken, das für die Regierung Wolfgang Clement verkörpert. Dessen Grundregel: weniger ist mehr. Steuern, Löhne und Sozialleistungen müssen runter, und der Staat muss sich noch kleiner machen. Alle müssen sich also bescheiden, mit einer Ausnahme: nicht die Unternehmen, nicht die Kapitaleigner, deren (meist zweistellige) Renditeerwartungen per se unumstritten sind und als wirtschaftlich vernünftig gelten. Die diese Politik vertreten, reklamieren für sich, einen sozialen Ansatz zu verfolgen: Nur so seien Unternehmen wieder fähig, zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Diesen Anspruch müssen auch Kritiker ernst nehmen. Die Auseinandersetzung mit der Clementschen Politik darf deshalb nicht länger in den Sphären der Moral verharren. Sie muss auch ökonomisch geführt werden. Es hilft nicht weiter, wenn die Sozialstaats-Verteidiger sagen: Eure Politik ist ungerecht, und die so Angegriffenen kontern: Aber unsere wirtschafts- und sozialpolitische Strategie ist die richtige. Es geht vielmehr um die Frage, wie wir in Zeiten der Globalisierung und des Übergangs von der Industrie- in die Wissensgesellschaft wirtschaften sollen und welche Alternativen es gibt.
Mit dem deutschen Modell des Kapitalismus gelang es, wirtschaftliche Dynamik, faire Teilhabe und soziale Gerechtigkeit zu verbinden. Ein großer Deal zum Nutzen aller. Starke Gewerkschaften und Betriebsräte handeln faire Lohn- und Arbeitsbedingungen aus. Die Folge: Die Belegschaften sind loyal und engagiert, sie qualifizieren sich. Gestreikt wird selten. Um Lösungen wird gerungen, gestritten wird jedoch auf Basis einer tief verwurzelten Bereitschaft zu Kooperation und Mitbestimmung. Der Staat trägt seinen Teil bei: Er glättet soziale Konflikte. Er investiert in die öffentliche Infrastruktur und liefert damit die Voraussetzungen für gewinnbringendes Wirtschaften. Moderne Infrastruktur, loyale und hoch qualifizierte Belegschaften - das befähigt die Unternehmen, mit Qualitätsprodukten im In- und Ausland Geld zu machen. Die deutsche Wirtschaft ist wegen und nicht trotz dieses Modells bis heute weltweit wettbewerbsfähig.
Neu ist die Rigorosität, mit der diese Vorzüge geleugnet oder verdrängt werden. Die Tage der Sozial-Partnerschaft zwischen Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften scheinen gezählt. Der Export-Weltmeister wird für krank erklärt, der Grund dafür liege in eben diesem Modell. Sagen Wirtschaft und Konservative. Und die Rot-Grünen? Sie verteidigen es nicht beherzt genug, um es vor der Preisgabe zu bewahren. So erscheinen sie in einer Front mit den Konzernen - vermutlich ohne Absicht, denn dazu sind die Motive zu verschieden: die einen getrieben von Ratlosigkeit und (selbst auferlegten) Sachzwängen, die anderen beflügelt von dem Wunsch, kurzfristig Gewinne zu maximieren und der Option, überall qualifizierte Arbeitskräfte billig einkaufen zu können. Beide, Politik wie Wirtschaft, scheinen zu glauben, es sei alles zu haben: das Modell aufgeben und seine Vorteile für die Ökonomie bewahren. Vielleicht fördert der Widerspruch aus der Gesellschaft und von den Gewerkschaften die Einsicht, dass für kurzfristige Vorteile dieses wirtschaftliche Erfolgsmodell nicht aufs Spiel gesetzt werden darf.
(Von Wolfgang Storz)