Karl Nolle, MdL
Frankfurter Rundschau, 26.08.2004
Interview: "Zu viele fühlen sich gedemütigt"
Der Ex-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner, über den Ärger der Ostdeutschen wegen Hartz IV
Frankfurter Rundschau: Bundeskanzler Gerhard Schröder wird in den Neuen Ländern wegen Hartz IV mit Eiern beworfen, der Ärger ist groß - warum ?
Reinhard Höppner: Im Osten herrscht große Angst, dass es zu unzumutbaren Härten kommt. Ich kenne mit Blick auf die verschärften Zumutbarkeitsregeln viele Akademiker, die schon jetzt einfachen Tätigkeiten nachgehen und im Sekretariat oder im Call-Center arbeiten. Die haben Angst, dass die nächste Stufe ihrer sozialen Existenz darin besteht, Laub zu harken. Sie erleben diesen sozialen Abstieg, ohne daran schuld zu sein.
Warum denn aber nicht wenigstens Druck ausüben auf jene, die nicht arbeiten wollen?
Es fehlen im Osten, wo 30 Arbeitslose um eine offene Stelle streiten, schlicht und ergreifend Tausende von einigermaßen angemessenen Arbeitsplätzen. Ich bezweifle nicht, dass es hier auch Leute gibt, die sich im Versorgungsstaat gut eingerichtet haben. Aber es gibt zu viele, die schon jetzt derart unter Druck leben, dass weiterer Druck nur zu neuen Ängsten und dann möglicherweise zu Aggressionen führt. Diese Leute fühlen sich durch Hartz IV gedemütigt. Es gibt aber schon zu viele Ostdeutsche, die sich als Deutsche zweiter Klasse fühlen und gegen weitere Demütigungen zur Wehr setzen.
Kritiker sagen, der Begriff Montagsdemonstrationen werde missbraucht. 1989 ginge es um Freiheit contra Diktatur, heute geht es um Wohlstand. Was sagen Sie?
Da werden die Montagdemonstrationen zu sehr glorifiziert. Ich erinnere mich gut an den Spruch: "Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zur D-Mark hin." Es ging schon damals sehr vielen darum, so zu leben wie im Westen. Wahrscheinlich verbunden mit der Illusion, man könne ein Stück der sozialen Sicherheit des Sozialismus mit dem Wohlstand des Westens verbinden. Diejenigen, die gegen das Regime gekämpft haben und die eine Veränderung der Verhältnisse hin zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit wollten, haben damals überlegt, ob sie noch mit demonstrieren können, als es nur noch um Wohlstand ging und die Verantwortung für das Leben und die Gestaltung der Gesellschaft nicht mehr im Vordergrund standen.
Sie sehen Gemeinsamkeiten zwischen damals und heute?
Es gibt eine Reihe von Parallelen. Eine davon ist die Perspektivlosigkeit, das Gefühl, dass es so nicht weiter geht. Damals hatte man allerdings den großen Bruder Bundesrepublik, dem man die DDR zur Reparatur vor die Füße legen konnte. Eine weitere Parallele ist, dass Politiker behaupten, alles, was sie tun, sei objektiv notwendig. Ich erinnere an die Lehre vom Gesetz über den Sieg des Sozialismus. Heute hören wir wieder: "Das geht nicht anders." Es ist aber nicht plausibel gemacht worden, dass es nicht anders geht und was nicht anders geht.
Sie meinen also: Viele Menschen haben das Gefühl, in einer neuen Ideologie gelandet zu sein, die ihre Prämissen ähnlich unkritisch festlegt wie zur DDR-Zeit?
Ja. Und sie haben damit nicht ganz unrecht. Die neoliberale Denkweise, die davon ausgeht, man müsse die Gesellschaft möglichst stromlinienförmig an die Marktwirtschaft anpassen, beherrscht die öffentliche Debatte. Die Menschen ärgert, dass Politiker sich von der Wirtschaft die Gesellschaftsentwürfe diktieren lassen. Und es ist richtig, wenn man sich dieser Ideologie nicht unterwirft. Dann muss man sich allerdings auch die Mühe machen, die Problemlage genau zu analysieren, und darin liegt die Schwäche der Proteste. Die Menschen, die da demonstrieren, geben sich nicht genug Mühe, die zweifellos komplizierter gewordene Welt zu durchschauen.
Was regt die Menschen in den Neuen Ländern am meisten auf?
Es wird einfach nicht zur Kenntnis genommen, in welcher Situation die Menschen hier bereits leben, welche Dumping-Löhne gezahlt werden, wie hier gnadenlos die hohe Arbeitslosigkeit von den Unternehmen ausgenutzt wird, um Löhne zu drücken und Subventionen zu kassieren. Wir merken hier sehr deutlich: Der Markt hat kein soziales Gewissen. Viele sagen: Früher, zu DDR-Zeiten, stand das in unseren Staatsbürgerkunde-Lehrbüchern in der Schule - damals glaubten wir nicht, dass es stimmt, heute erleben wir das.
Mal ehrlich: Geht Ihnen die Mentalität der Ostdeutschen nicht manchmal auch auf die Nerven?
Ich bin als Ministerpräsident einmal allen Ernstes aufgefordert wurde: "Herr Höppner, machen Sie endlich, dass die Menschen glücklich sind." Darüber habe ich mich maßlos geärgert, denn wir waren ja aus einem Staat gekommen, in dem "die oben" glaubten, sie wüssten, was sie tun müssen, damit die Menschen "da unten" glücklich sind. Solche Beglückungspolitiker, die den Menschen die Entscheidung über die Lebensgestaltung abnehmen, will ich nicht mehr. Dieses Delegieren von Verantwortung an "die da oben", diese nicht nur im Osten weit verbreitete Mentalität, führt in die Sackgasse. Das müssen wir überwinden.
Beunruhigt Sie die aufgeheizte Situation?
Mich beunruhigt die Mischung von Leuten, die wirklich engagiert für Gerechtigkeit eintreten, und ziemlich vielen, die nur Unmut und Frust verbreiten wollen, um davon politisch zu profitieren. Extreme Parteien am rechten Rand haben bedenklichen Zulauf. Auch in der PDS bekommen alte Denkweisen und ihre Repräsentanten Oberwasser. Die Gefahr besteht, dass die gefährlichen Kräfte die engagierten Leute an der Spitze der Bewegung verdrängen.
(Interview: Thomas Maro)
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Reinhard Höppner,
Sozialdemokrat und Kirchenmann, war von 1994 bis 2002 Ministerpräsident Sachsen-Anhalts. Der zurückhaltende, analytische Diplom-Mathematiker führte eine von der PDS tolerierte Regierung (Magdeburger Modell).
In der Wendezeit stieß er, der mit dem Ende der DDR nicht die Idee einer sozial gerechten Gesellschaft gescheitert sah, zur SPD. Die Landtagswahlen am 21. April 2002 gerieten für ihn zum Desaster. Die SPD verlor mit 20 Prozent fast die Hälfte der Stimmen – Höppner gab noch am Wahlabend alle Ämter ab.
Ursache war die hohe Arbeitslosigkeit, mit der jetzt die Nachfolgeregierung von Wolfgang Böhmer (CDU) zu kämpfen hat – bisher ebenfalls ohne Erfolg. Höppner ist seitdem Landtagsabgeordneter. Außerdem ist der 55-Jährige Mitglied im Vorstand des Evangelischen Kirchentags.