Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 11.09.2004
„Fordern ist noch keine Politik"
Wolfgang Thierse über Montagsdemos, neue Mauerbauer, Hartz IV und die Verantwortung von Nichtwählern
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) hat sich im SZ-Gespräch für eine rasche Angleichung des Arbeitslosengeldes II Ost ans Westniveau eingesetzt.
Ein Demonstrant in Wittenberge wird so zitiert: „Auch wenn es uns heute besser geht, in der DDR waren wir glücklicher." Was läuft da falsch?
Es wird immer Minderheiten geben, die mit geschichtlichen, politischen oder sozialen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Wenn ich jetzt die Aufregung darüber höre, dass sich 20 Prozent der Deutschen die Mauer zurückwünschen, dann erschreckt mich das zwar. Aber zugleich sind 80 Prozent offensichtlich der Meinung, es ist gut, dass die Einheit Deutschlands stattgefunden hat und dass die Entwicklung trotz aller Probleme so ist. Bei welchem anderen politischen Konfliktthema gibt es eine solche klare Mehrheit?
Die Mehrheit derer, die Maurer werden wollen, leben im Westen. Sehen Sie die gesamtdeutsche Solidarität in Gefahr?
Nein, wir wollen nicht übertreiben. Es gibt im Moment angesichts der Protestwelle in Ostdeutschland und der Berichterstattung über das angebliche Milliardengrab Ost natürlich emotionale Irritationen im Westen. Viele Leute, denen es im Westen schlecht geht, sind voller Verwunderung oder Irritation, dass die im Osten mehr wollen. Also müssen wir aufklären, dass es nicht um mehr leid geht, sondern den Aufbau Ost effektiver zu gestalten.
Befürchten Sie, dass der Solipakt II in Frage gestellt wird?
Ich hoffe nicht, dass eine westdeutsche Partei, egal ob SPD oder CDU, der populistischen Gefahr erlegen ist, Ost und West gegenseitig auszuspielen wie die PDS in Ostdeutschland. Wir können die unterschiedlichen Probleme in beiden Teilen Deutschlands nur mit gesamtdeutscher Kraftanstrengung lösen, nicht im Gegeneinander.
Sind die Montagsdemos gerechtfertigt?
Sie sind erklärlich, aber ich glaube nicht, dass sie wirklich zum Ziel führen. Ein Teil der Demonstranten nimmt elementare Fakten und die Gründe und Ziele unserer Reformen nicht zur Kenntnis. In den letzten 30 Jahren ist in Deutschland die Arbeitslosigkeit kontinuierlich gestiegen, obwohl sehr viel Geld für Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wurde. Damit ist der Beweis erbracht, dass die bisherige Arbeitsmarktpolitik gescheitert ist. Sie schafft keine Arbeitsplätze, treibt zugleich den Sozialstaat finanziell in den Ruin. Das kann man nicht hinwegdemonstrieren. Aber zu Hartz IV gehört, dass von den knapp zehn Milliarden Euro für Wiedereingliederungsmaßnahmen 42 Prozent nach Ostdeutschland fließen werden. Regionen mit einer Arbeitslosigkeit von über 15 Prozent, also ganz Ostdeutschland, bekommen zusätzliche Mittel. Mein Vorschlag ist: Bildet Runde Tische mit Kommunal- und Landespolitikern, Gewerkschaftern, Wirtschaftsvertretern, Leuten aus Organisationen und eben auch Demonstranten, um darüber zu reden, wie aus diesem zusätzlichem Geld öffentlich finanzierte Arbeitsplätze entstehen können. Das ist aussichtsreicher, als auf Montagsdemos den Rücktritt von Schröder oder gar einen Systemwechsel zu fordern.
Muss man nicht auch im Osten lauter sagen, dass es Forderungen an die Politik gibt, die sie selbst bei bestem Willen nicht erfüllen kann?
Ja. Fordern und Wünschen ist noch keine Politik. Man muss die Bedingungen für die Einlösung von Forderungen immer mitbedenken. Demokratie besteht nicht darin, dass man seine Forderung erhebt und dass die dann gleich befriedigt wird. Demokratie ist dieser mühselige Streit und das Aushandeln von Maßnahmen und Schritten angesichts unterschiedlicher Interessen, Meinungen und Wünschen. Ost-SPDlern ist jetzt aufgefallen, dass die Empfänger von Arbeitslosengeld II in West wie Ost „bei Aldi einkaufen, einfache Kleidung tragen und mit dem Bus fahren".
Die unterschiedlichen Sätze beim Arbeitslosengeld II resultieren aus dem unterschiedlichen Lebenshaltungskostenniveau zwischen Ost und West. Der tatsächliche materielle Unterschied ist zwar gering, hat aber politisch eine außerordentlich symbolische Bedeutung mit erheblicher emotionaler Sprengkraft. Aus politischen Gründen fände ich es vernünftiger, diesen Unterschied nicht zu machen, so sehr er statistisch erklärbar ist. Man wird prüfen müssen, ob man an dieser Stelle nicht nachjustieren kann.
Wie lange hält die SPD ihre Reformpolitik durch?
Die SPD macht ja nicht Reformpolitik aus parteiegoistischen Gründen, sondern weil sie diese Reformen für notwendig hält, um die Massenarbeitslosigkeit zu verringern und den Sozialstaat finanziell zukunftsfähig zu machen. Wenn man so gewichtige Gründe und gute Ziele hat für diese Reformpolitik, dann hat man die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sie auch durchzuhalten. Auch wenn es dann einer Partei über eine gewisse Strecke in der Stimmung sehr schlecht geht. Eine Partei, die aus Angst den eigenen zwingenden Einsichten nicht mehr folgt, die verdient die Verachtung der Bevölkerung. Eine Reformpause wird es nicht geben. Wir sind mitten in einem Reformprozess, den wir nicht abbremsen wollen, sondern den wir immer genauer justieren wollen.
Wer trägt die Verantwortung für den Fall, dass die rechtsextremistische NPD in den sächsischen Landtag einzieht?
Die Wähler entscheiden. Aber in diesem Fall sage ich ausdrücklich, auch die Nichtwähler sind daran beteiligt, dass rechtsextremistische Parteien stärker werden. Es würde dem Ansehen der ostdeutschen Demokratie schaden, wenn 15 Jahre nach Erringung der Demokratie die Parteien stark werden, die mit dieser Demokratie nicht so sehr viel am Hut haben. Diejenigen, die die SPD aus Enttäuschung oder Verärgerung nicht wählen, sollen sich nicht beklagen, dass dann andere Parteien, heißen sie CDU oder PDS oder NPD, stärker werden, als die Verärgerten vielleicht wirklich wollen.
(Gespräch: Peter Heimann)