Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung, 13.09.2004

Reservat Ostdeutschland: Warum die Überlegungen des Bundespräsidenten Köhler schädlich sind und das Land spalten.

Kommentar von Heribert Prantl
 
Im Gegensatz zu den Schalenweichtieren trägt der Mensch seine Behausung nicht mit sich herum. Und er hat, auch deshalb, weil er im Gegensatz zu den Schalenweichtieren kein Zwitter ist, andere soziale Bedürfnisse, die sich unter anderem darin äußern, dass er einen Lebenspartner sucht, eine Familie gründet, im Sport- oder Gesangsverein aktiv ist, dass seine Kinder in die Schule gehen und Freunde haben.

Das setzt der großen Mobilität, wie sie soeben der Bundespräsident wieder verlangt, gewisse Schranken. Der Mensch ist auch keine Flipperkugel, und nicht jeder ist gemacht für ein Berufsleben wie im Spielautomaten, in dem man sich um der Punkte willen viel herumschlagen lassen soll.

Aber nicht nur deshalb, nicht nur aus sozialen Gründen also, ist der Rat Horst Köhlers an die Menschen in Ostdeutschland fatal, ihr Heil doch möglichst im Westen zu suchen, dort, wo es noch Arbeit gibt.

Köhlers Rat ist auch ökonomisch problematisch: Er entvölkert den Osten, dessen Städte ohnehin schon ein Viertel ihrer Einwohner verloren haben.

Infrastrukturen still legen

Wenn es die von Köhler propagierten Wanderbewegungen gäbe, müssten im Westen neue Infrastrukturen aufgebaut und die im Osten soeben großzügig aufgebauten Infrastrukturen wieder stillgelegt werden.

Es wäre ein sonderbares Konjunkturprogramm, wenn man im Osten immer mehr Wohnungen abreißen und Stadtviertel zusperren und dann für teueres Geld im überfüllten Westen neu aufbauen müsste.

Wenn die Politik das Ziel aufgibt, den Menschen in erster Linie dort Arbeit zu schaffen, wo sie leben, dann kann sie sich das Lamento darüber sparen, dass diese Menschen radikal wählen.

Die Maschinen (sprich: die Arbeitsplätze) müssen zu den Menschen, nicht die Menschen zu den Maschinen. Köhler nimmt offenbar davon Abschied. Er plädiert dafür, wie dies der von Graf Lambsdorff, FDP, geprägte extreme Wettbewerbsföderalismus seit langem fordert, das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Deutschland aufzugeben; dann könnte man sich den anstrengenden Verpflichtungen gegenüber strukturschwachen Landesteilen (nicht nur denen im Osten) entziehen.

Zur Begründung sagt man, es sei doch klar, dass es keine gleichen, einheitlichen Lebensverhältnisse im ganzen Land geben könne. Das ist wohl wahr.

"Gleichwertigkeit" verlangt

Man kann das Allgäu nicht nordfriesisieren und Nordfriesland nicht allgäuisieren. Das Grundgesetz und die politische Vernunft verlangen nicht Einheitlichkeit und Uniformität, sondern „Gleichwertigkeit“.

Das heißt: Die Chancen für die Menschen sollen einigermaßen gleich verteilt sein. Nicht mehr.

Deswegen muss es einen vernünftigen Finanzausgleich geben, so wie ihn der kooperative Föderalismus vorsieht. Wer ihn abschafft, schafft mehr Probleme als er löst; er zerlegt das Land in Arbeitsregionen einerseits, Reservate und Museumsinseln andererseits.

Das ist nicht Aufgabe des Bundespräsidenten. Er soll das Land zusammenführen, nicht spalten.