Karl Nolle, MdL
Franfurter Rundschau, 29.11.2000
Vieles bleibt rätselhaft, undurchsichtig
War der ungeheuerliche Verdacht, Joseph sei ermordet worden, nur eine Konstruktion der verzweifelten
SEBNITZ/FRANKFURT. Am Ortseingang von Sebnitz stehen Polizisten. Auf dem Marktplatz stehen Polizisten. Vor der Apotheke, auf dem Parkplatz davor, vor einer anderen Apotheke. Überall Polizisten. Die Stadt wird streng bewacht. In einer Seitenstraße stehen einige Glatzköpfe in Springerstiefeln. Offensichtlich Rechte. Sie schweigen und verhalten sich ruhig. 130 Polizisten sind seit einigen Tagen in der kleinen Stadt im Dresdner Südosten. Sie sollen Rechtsextremisten fernhalten.
Bauarbeiter hatten am Montag einen Steinhaufen vor der Apotheke der Familie Abdulla-Kantelberg wegräumen müssen. Aus Angst davor, die Steine könnten bei Gewalttaten verwendet werden. An den Abenden seit Donnerstag, als die Bild-Zeitung mit der Schlagzeile "Neonazis ertränken Kind" erschien, ist die Stadt aus dem Lot: Abends kamen Rechte, grölten vor der Apotheke, brausten mit dem Auto am Marktplatz vorbei, bedrohten die Leute. Auch deswegen ermittelt jetzt die Polizei.
Der Sebnitzer Pfarrer, der öffentlich gesagt hatte, die Eltern des kleinen Joseph hätten besser auf ihn aufpassen sollen, wurde per Internet beschimpft und beleidigt. Die Kirche hat ihn anschließend beurlaubt, das Landeskirchenamt sich bei den Eltern entschuldigt. Von Mittwoch an darf der Pfarrer wieder seinen Dienst tun.
Josephs Tod ist weiterhin rätselhaft. Jeder, auch in Sebnitz, meinte, sich zu dem Todesfall äußern zu müssen, jeder hatte seine persönliche Theorie vom 13. Juni 1997, als der sechsjährige Joseph Abdulla nachmittags gegen 15 Uhr im Freibad ums Leben kam. Was wirklich geschehen ist, weiß noch keiner. Für viele waren Verdacht und Gewissheit ein und dasselbe, für Zweifel blieb kein Platz.
Das ist nicht entschuldbar, aber verständlich in einer Zeit, in der keine noch so brutale Gewalttat mehr unmöglich erscheint. In der Ausländer von Rechten durch ostdeutsche Innenstädte gehetzt wurden, Ausländer in Straßenbahnen verprügelt und ein afrikanischer Vater in Dessau zu Tode getreten wird. Warum nicht ein kleiner Junge, dessen Vater die "Ausländerapotheke" betrieb? Es wurde hemmungslos spekuliert. Die Sächsische Zeitung hatte über die unglaublichen Äußerungen des SPD-Landtagsabgeordneten Karl Nolle berichtet: Der habe von Verharmlosung gesprochen und gemeint, hoffentlich habe das nichts mit der NS-Vergangenheit von Biedenkopfs Familie zu tun. Was für ein Irrsinn.
In einem Gasthaus am Marktplatz sitzen am Montagabend eine Menge Journalisten. Alle müde, es ist spät, der Tag war lang. "Irgendwas war an dem 13. Juni. Der ist nicht einfach ertrunken", sagt ein Zeitungsreporter. Für andere ist der Fall klar: "Alles erfunden." Die "Lüge von Sebnitz", sagt einer. Die Ratlosigkeit ist groß. Alle wollen allumfassende Erklärungen: Nur, es gibt noch keine. Vielleicht nie. Was war bloß an dem Juni-Tag?
Am Dienstagmittag tritt Ministerpräsident Kurt Biedenkopf überraschend vor die Presse. Ihm ist anzumerken, dass er sich kaum bremsen kann vor Empörung. Seine Wut prasselt auf Professor Christian Pfeiffer nieder. Pfeiffer ist Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, das für die Eltern des toten Joseph eine Analyse der schriftlichen Erklärungen verfasste. Die Eltern hatten eigene Ermittlungen in Sebnitz angestellt, hatten Kinder, Jugendliche und Erwachsene befragt, alles in ihren PC getippt und unterschreiben lassen. Am Dienstagvormittag hat die Staatsanwaltschaft Dresden ihre Einschätzung zu diesen Papieren bekannt gegeben: 14 von 15 dieser Aussagen seien nicht haltbar. Ein Zeuge konnte nicht vernommen werden. Der Beweiswert der Erklärungen sei fraglich, und der Tatverdacht gegen die drei aus der Untersuchungshaft freigelassenen jungen Leute schrumpfe weiter zusammen. Gegen einen würden die Ermittlungen eingestellt.
Drei Menschen seien unter Mordverdacht verhaftet worden auf Grund von Erklärungen, die Pfeiffer als "erhebliches Beweismittel" klassifiziert habe, schimpfte Biedenkopf. Pfeiffer, der demnächst Justizminister von Niedersachsen wird, sei "fahrlässig mit so schwierigen Fragen" umgegangen. Biedenkopf mochte sich ein paar bittere Bemerkungen nicht verkneifen: Bauchschmerzen, wie Pfeiffer sie jetzt öffentlich äußere, die hätte er besser früher haben sollen. Auf die Frage zu Pfeiffers Aufstieg zum Justizminister sagte Biedenkopf: "Ich halte ihn nicht für geeignet."
Der Fall Joseph bleibt undurchsichtig und rätselhaft. Wie konnten Hauptbelastungszeugen, deren schriftliche Erklärungen sich jetzt als im Grunde wertlos herausstellen, angeblich mehrstündige richterliche Vernehmungen durchstehen, die zur Verhaftung von zwei Männern und einer Frau wegen dringenden Mordverdachts führten? Und anschließend war alles wertlos, die Erklärungen von den Eltern manipuliertes Zeug, ohne Bedeutung, weil die Zeugen angeblich gar nichts gesehen hatten? Wieso kamen den befragenden Richtern keine Zweifel – Zweifel, wie sie die Staatsanwälte später bei der Nachprüfung offensichtlich sofort hatten? Da konnte auch Biedenkopf nicht weiterhelfen: "Es gibt eine plausible Erklärung dafür – ich kann es aber nicht sagen."
An diesem Dienstagnachmittag entlud sich in der Dresdner Staatskanzlei bei der Pressekonferenz eine Menge Dampf, der sich aufgestaut hatte, seit Bild am vergangenen Donnerstag mit der Schlagzeile "Neonazis ertränken Kind" herauskam. Sebnitz habe Schaden genommen, ganz Ostdeutschland sei verunglimpft worden. Die anwesenden Bild-Journalisten donnerte Biedenkopf zusammen: "Erlauben Sie mal!", fuhr er einen Frager an, "ich hätte mir gewünscht, Ihre Zeitung hätte auch ermittelt, bevor sie einen solchen Schaden anrichtet." Auch Gerhard Schröder, der am Montag Josephs Mutter in Berlin empfangen hatte, bekam ein paar Seitenhiebe ab. Dessen Erklärung, die Frau als SPD-Vorsitzender und nicht als Bundeskanzler empfangen zu haben, um sich nicht in das Ermittlungsverfahren einzumischen, habe er als "wenig einleuchtend angesehen". Und die rechten Gröler, die vor der Apotheke auftauchten? Es gebe Hinweise, einige seien von elektronischen Medien bezahlt worden, sagte Biedenkopf.
Was ist wirklich geschehen an jenem Tag vor bald dreieinhalb Jahren? War alles eine Konstruktion der Eltern, die nicht darüber hinwegkamen, dass ihr Junge ertrank, unbemerkt von der großen Schwester, die aufpassen sollte? Ein gewaltiges Gebäude, gestützt auf wissenschaftliche Gutachten, "in sich schlüssig", wie Innenminister Klaus Hardraht es einmal nannte, dennoch ein Konstrukt aus Suggestion und Autosuggestion? Ist Joseph einfach ertrunken, beim Spielen mit anderen untergetaucht oder gezielt ertränkt worden? Es gibt noch eine Menge Fragen zu klären. Wurde Joseph etwas eingeflößt? Wenn nicht, woher kamen die angeblichen Reststoffe des Medikaments "Ritalin" in der Blutprobe des Jungen? Die Version eines angeblichen Zeugen, 40 bis 50 Skinheads seien im Bad aufgetaucht und hätten den Jungen unter den Augen vieler Badegäste und Aufsichtspersonen gequält und ertränkt, das halten die Ermittler für ziemlich ausgeschlossen. Alle anderen Möglichkeiten prüft die mit dreißig Polizisten besetzte Sonderkommission "Schwimmbad".
"Haben Sie gelogen, Frau Kantelberg?", fragt am Dienstag die Bild-Zeitung die Mutter von Joseph. "Ich bitte Sie und Ihre Leser ganz aufrichtig, uns zu glauben", wird die 48-Jährige zitiert. Sie hoffe, dass niemand denke, die Familie Kantelberg-Abdulla habe gelogen.
(von Bernhard Honnigfort)