Karl Nolle, MdL

Sächsische Zeitung, 21.12.2000

KULTUR - Eine mittlere Scheibe

Kolumne von Jens-Uwe Sommerschuh
 
DRESDEN-KULTUR. Als Dresdner habe ich es gut, wenn ich was vom Bäcker will. Bis zu Claudius in der Kamenzer oder zur Zscheile-Filiale in der Prießnitzstraße brauche ich zu Fuß keine zwei Minuten, bis zur Rißmann-Filiale am Bischofsweg höchstens drei. Ich weiß nicht, wie viele Bäckereien es in der Landeshauptstadt gibt, aber dank des Trends zu Zweitgeschäften vor allem in meinem Stadtviertel komme ich, wie die Fachleute sagen, in den Genuss einer hohen Angebotsdichte bei Backwaren. Zum nächsten Fleischer ist es auch nicht viel weiter. Doch nicht deswegen gebe ich grad mehr Geld für Stollen aus als für abgehangene Knacker, Serranoschinken, Hochrippe oder die unvergleichlichen Markknochen Oberallgäuer Steilhangrinder, Basis einer jeden Delikatessbrühe mit wahnsinnig gutem Geschmack. Nein, mein Geld scheffeln zurzeit vor allem die Teigkneter, weil ich nämlich stollengierig bin. Wäre ich gebürtiger Sachse, hätten vielleicht auch jene etwas trockeneren Stollen bei mir eine Chance, die erst durch Ditschen in den Kaffee ihren Schmelz entfalten. Auf dem Striezelmarkt, wo die Angebotsdichte fast erdrückend ist, bin ich hier und da auf diese Variante gestoßen. Ich bevorzuge aber mittlere Scheiben von schon beim Kauf feuchten, hinreichend durchgezogenen Stollen, deren Kruste nicht zu knusprig sein sollte. Und bei meinen Bäckern bekomme ich die, o Freude, denn ich bin Nicht-Ditscher. Da schmolle ich nicht wegen des Stollenpreises, der dieses Jahr, glaube ich, wieder um eine Mark pro Kilo gestiegen ist. In der Genussmittelbranche ist so was ja gang und gäbe. Um ein halbes Pfund Lavazza, 100 % Arabica, für weniger als acht Mark aufzutreiben, muss ein Espresso-Junkie längst gut zu Fuß sein, und die Kippenkonzerne Philip Morris, Reemtsma, Bat und Konsorten kassieren am Automaten mittlerweile sechs Mark pro Schachtel. Alles neu macht bald der Euro, falls er nicht noch 2001 der Schwindsucht zum Opfer fällt. Im Jahre 1500 übrigens, vor 500 Jahren also, führte Sachsen neue Silbermünzen ein. Sie wurden zunächst Guldengroschen, dann Taler genannt, eine Währung, die mehr als zweieinhalb Jahrhunderte Bestand hatte! Vom Silberort Sankt Joachimst(h)al leitete sich um 1520 der Begriff "Joachimstaler" her, aus dem bald, weil gängiger, "Taler" wurde, auf Sächsisch Daler, was das weiche Ahnwort für den Dollar war. 1873 wurde der Taler reichsweit von der Mark abgelöst. Zwei knochenharte D-Mark sollen heute weniger wert sein als ein US-Dollar, auch "Buck" genannt und "Back" gesprochen. Stimmt das wirklich? Was in der Dollar-Nation eine Bürgerstimme wert ist, weiß ja auch keiner. Schlau war jeder Staatler, der sich angesichts dünner Angebotsdichte und in Vorahnung der noch dünneren Auszählkünste statt für Äl Gore oder Dschordsch Bush für einen Hämbörger als das Geringste aller amerikanischen Übel entschied. "Die Amis haben sowieso eine mittlere Scheibe", meint der Rabe Amasis, "und USA bedeutet: Unsäglich Senile Arithmetiker. Zu Recht heißt eins der schlichtesten deutschen Backprodukte Amerikaner." So ein Vogel. Wenn die Dresdner wählen, sind sie besser dran. Nein, nicht zwischen Wagner, Nolle oder Berghofer, wir sind hier nicht auf der Witzseite, die Rede ist von Kultur. Nein, wählen zwischen Stollen von Claudius, Zscheile, Rißmann oder einem anderen Bäcker des Vertrauens, den Meistern jener bereits seit Talers Zeiten weltweit konkurrenzlosen Backkunstwerke. Es lebe die Stollenkultur!
(Jens-Uwe Sommerschuh)