Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 20.09.2005

Medienfalle

Kommentar von Stephan Hebel
 
Die Sache könnte sehr einfach sein: Ein Bundeskanzler macht sich - durch eine einsame Neuwahl-Entscheidung - zum Außenseiter im Rennen um die Gestaltung der Zukunft, was nicht nur die Medien, sondern auch viele in seiner Partei mit Staunen bis Entsetzen zur Kenntnis nehmen. Er kämpft hart und arbeitet sich an die Favoritin heran, doch zum Sieg reicht es nicht. Nun beschimpft er die Medien, obwohl die nichts anderes getan haben, als alle menschen- und demoskopenmöglichen Prognosen in Worte zu fassen.

Wenn das alles wäre, es wäre wirklich einfach: die Medienschelte des Enttäuschten, ein Ablenkungsmanöver, zu quittieren mit dem souveränen Achselzucken der "Vierten Gewalt".

Es stimmt, dass Schröders Beschimpfungen am Wahlabend paranoide Züge aufwiesen. Aber das ist nicht alles: Jenseits dessen, was der Kanzler ausdrücklich sagte, gibt es Anlass zur Sorge um die Seriosität der meinungsmachenden Klasse. Dass einige Großjournalisten, von Jauch bis Jörges, gegen jede Anschauung (und gegen die große Mehrheit der Befragten) die Kandidatin Merkel zur Siegerin des Vorwahl-Duells erklärten - das war einer Bewerbung um das Amt des künftigen Regierungssprechers ähnlicher als einer journalistischen Bewertung.

Das wiederum war nur der besonders peinliche Ausdruck einer Entwicklung, die tiefer geht: Es hat sich in weiten Teilen des deutschen Journalismus ein seltsamer Reflex breit gemacht, der allzu oft die Reflexion und die Recherche ersetzt. Dieser Reflex reduziert die Komplexität der sozialen Fragen in einem intellektuellen Kurzschluss: Die Probleme sind absolut eindeutig (armer Staat), die Lösung ebenso: Geld raus aus den Sozialsystemen. Die Suche nach Alternativen zu dieser Politik ist altmodisch, der Ruf nach - beispielsweise - höheren Steuern für hohe Einkommen undiskutierbar unsinnig. Eine Einschätzung, zu der man kommen kann, die aber inzwischen wie ein Naturgesetz - unreflektiert und unrecherchiert - einfach vorausgesetzt wird.

Ein Begriff wie "Reform" ist damit radikal umgedeutet: einst Synonym für Forschritt im Interesse der Benachteiligten, also eher Domäne der Linken, wird Reform nun gleichgesetzt mit Staats- und Sozialabbau. ARD-Mann Hartmann von der Tann brachte das am Sonntagabend auf den Punkt, als er Schröder ansprach: "Sie haben sich nach dieser Zeit der mutigen Reformen im Wahlkampf nach links bewegt...".

Über diesen Satz hat sich der Kanzler aufgeregt. Es klang allerdings eher so, als störe ihn die Wertung "nach links bewegt". Und er konnte natürlich nicht erwähnen, dass seine Agenda in eine ähnliche Falle gelaufen war wie viele der unkritisch neoliberalen Journalisten. Sie war denn auch so ziemlich das einzige, was diesen an Schröders Regierung gefiel.