Karl Nolle, MdL
Berliner Zeitung, 20.09.2005
Klare Wahl - Rot-Rot-Grün
Kommentar von Brigitte Fehrle
Der Bürger, so heißt es seit Sonntag Abend, 18 Uhr, hat kompliziert gewählt. Keines der beiden Lager habe eine Mehrheit. Wer also zukünftig regieren wird in Deutschland ist unklar. Letzteres stimmt. Merkel beansprucht mit Fug und Recht den Auftrag, eine Regierung zu bilden in der sie Kanzlerin werden kann. Schröder beansprucht - mit gewundenen Argumenten - ebenfalls die Macht. Beide wollen versuchen, mit den beiden kleinen Parteien FDP und Grüne eine Regierung zu bilden. Mit völlig offenem Ausgang.
Was aber nicht stimmt ist, dass der Wähler unklar gewählt hat. Der Wähler wählt seit 1998 konstant eine Mehrheit jenseits von FDP und CDU. Der Wähler wählt eine linke Mehrheit. Das kann jeder feststellen, der auf die Ergebnisse der vergangenen drei Bundestagswahlen schaut. Die Konstellation hieß 1998 und 2002 Rot-Grün. Jetzt müsste sie Rot-Rot-Grün heißen. Und da sind wir schon beim Problem. Dass aus dieser rechnerischen Mehrheit keine Regierungsmehrheit wird, liegt nicht am Wähler, sondern an den Parteien. Die SPD und die Grünen schließen es aus und auch die Linkspartei sieht dafür keine Grundlage.
Doch derzeit sind die Verhältnisse auf der politischen Bühne so, dass, was heute ausgeschlossen wird, nicht Ewigkeitswert haben muss. Der Wille von Gerhard Schröder, Kanzler zu bleiben, scheint jedenfalls derart ausgeprägt, dass das Undenkbare denkbar wird. Fragt man sich also, wohin der Kanzler will, so kann man auch nicht ausschließen, dass am Ende, wenn alles durchdekliniert ist, auch die rot-rot-grüne Option auf die Tagesordnung kommt. Nimmt Schröder sich selbst ernst, liegt diese Koalition auch gar nicht fern. Als er am 22. Mai, nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen, Neuwahlen ausrief, wollte er eine Abstimmung über seine Politik, über die Agenda 2010. Er hat sie bekommen: Vier Prozent Verlust im Vergleich zur Wahl 2002 ist deutlich weniger, als viele und eigentlich auch er selbst, erwarten konnte. Vier Prozent, die er an eine Partei verloren hat, deren Existenz er selbst verschuldet hat: Die Linkspartei. Vier Prozent, die die Größe des Kritik- und Widerstandspotenzials gegen den Agenda-Kanzler markieren. Nimmt man es also genau, ist der Kanzler exakt wieder an dem Punkt von wo aus er am 22. Mai, als er die Neuwahl verlangte, gestartet ist. Er wollte Klarheit, er hat sie bekommen. Die Wähler wollen ihn, aber nur im Gespann mit der Linkspartei. Schröder muss sich also die Frage stellen, ob auch er das will. Ob er Kanzler einer linken Mehrheit sein möchte. Wenn ja, muss er die Konsequenzen ziehen.
Wenn er das nicht will, und dafür spräche inhaltlich sehr sehr vieles, ist sein expliziter Anspruch auf die Kanzlerschaft lächerlich. Dann zielt er nur auf Destruktion. Dann geht es ihm nur darum, Angela Merkel den Weg zu versperren, Zeit zu schinden für den Machtkampf in der Union. Dann macht Schröder das Geschäft von Stoiber, von Wulff, von Koch und Merz.
Aber wo soll das enden? Eine Ampelkoalition ist nach der nochmaligen Festlegung der FDP für ein Bündnis mit der CDU und ihrer Absage an Gespräche mit den Sozialdemokraten wenn nicht ausgeschlossen, so doch in sehr weite Ferne gerückt. Oder will Schröder die große Koalition unter seiner Führung? Man traut ihm selbst diese Gedankenspiele zu. Oder legt er es auf Neuwahlen an, hofft, dass dann die Wähler der Linkspartei zur SPD zurückkommen und Rot-Grün doch noch eine Mehrheit hätte? Dann träfe zu, was man das Ende des Souveräns nennen könnte: Die Regierung lässt so lange wählen, bis ihr das Ergebnis passt.
Und wofür das Ganze? Worum geht es eigentlich? Um Inhalte? Um eine Richtung? Das wollten uns die Parteien im Wahlkampf einreden. Tatsächlich aber gab es im aktuellen Tagesgeschäft in den vergangenen drei Jahren viel mehr Gemeinsamkeiten zwischen der CDU und der Agenda 2010-SPD als es derzeit den Anschein hat. In der Steuerpolitik mit einem Papier von Koch und Steinbrück, das Gesetzesreife hat; In der zentralen Frage der Föderalismusreform, der Beschränkung des Einflusses des Bundesrates, war man weit gekommen; In der Gesundheitsreform war die Seehofer-Union der SPD sehr nahe. Könnte man sicher gehen, dass die beiden großen Parteien sich vernünftig verhalten und möglichst viele dieser Gemeinsamkeiten auch umsetzen - die große Koalition wäre zumindest bis zur nächsten Wahl kein großer Schaden. Vernunft allerdings ist derzeit in der Politik ein ganz rares Gut.