Karl Nolle, MdL
DNN/LVZ, 14.10.2005
Die Angst vor dem Phantom
Dresden. Offiziell zeigen sich beide Seiten zufrieden. "Ich begrüße das", sagt Sachsens Staatskanzleiminister Hermann Winkler (CDU), der Freistaat habe beim Thema Straßenbau "einen Verbündeten in Berlin" mehr. Positiv reagiert auch SPD-Landeschef Thomas Jurk. "Das ist toll für Sachsens SPD", lautet sein Statement, "nun besteht ein kurzer Draht zum Bund." Wieder mal geht es um Wolfgang Tiefensee (SPD) und seine Ambitionen, doch jetzt ist der Anlass akut. Nachdem der Leipziger OBM 2002 noch abgesagt hatte, zieht es ihn Richtung Berlin - "ein Riesengewinn", meint Jurk.
Dabei ist die freudige Erregung des sächsischen SPD-Manns verständlich. Schließlich soll Tiefensee Manfred Stolpe (SPD) beerben und im Bund - wie Jurk in Sachsen - Verkehrsminister in einer großen Koalition werden. Für die CDU im Freistaat dagegen ist die Aufwertung des Leipzigers zumindest an einem Punkt ein Problem. So hat die SPD jetzt einen Sachsen auf Bundesebene vorzuweisen, der die Stimme des Ostens geben kann. Die CDU dagegen droht leer auszugehen. Allenfalls CDU-Mann Arnold Vaatz hat noch Chancen auf einen Posten als parlamentarischer Staatssekretär - ein Job in der dritten Reihe.
Doch nicht nur das sorgt manchen Christdemokraten im Freistaat. "Der Ausbau der Infrastruktur liegt mit Tiefensee und Jurk fest in SPD-Hand", meint der CDU-Landtagsabgeordnete Thomas Hermsdorfer. Und mehr noch: "Tiefensee wird als Minister von Pontius zu Pilatus laufen und Bändchen durchschneiden, das kann er ja." Daraus spricht die Furcht vor einem Polit-Phantom: Trotz schlechter Daten in Leipzig mit Schulden und Arbeitslosigkeit gilt Tiefensee sachsenweit noch immer als Macher; trotz Olympia- und Dezernenten-Querelen pflegt er beharrlich sein Image als Strahlemann.
Das ist auch bei der CDU angekommen. "Tiefensee ist gern jedermanns Liebling", meint Generalsekretär Michael Kretschmer, doch anders als an der Pleiße sei das auf Bundesebene schwer durchzuhalten. "Stolpe ist massiv gescheitert", sagt Kretschmer, er wünsche dem Neuen ein anderes Schicksal - und das heißt: "viel Erfolg".
So ernst das in der Sache gemeint sein mag, so sehr hat es parteitaktisch einen doppelten Boden. Denn noch immer gilt Tiefensee in der Sachsen-Union als virtueller Angstgegner, und die heimliche Hoffnung der CDU-Strategen lautet: Weggelobt auf einen Schleuderstuhl im Bundeskabinett könne der Leipziger dem sächsischen Regierungschef Georg Milbradt (CDU) nicht mehr gefährlich werden. Eben dies hatte die Union vor zwei Jahren noch umgetrieben. Damals galt der OBM als Milbradt-Herausforderer für die Landtagswahl, und nicht wenige in der Union befürchteten, dass "Teflon-Wolfgang" (CDU-Spott über Tiefensee) dem spröden Finanzer Paroli bieten könnte.
Wirklich aus dem Schneider aber ist die Union mit dem Weggang von Tiefensee nicht. Bereits heute macht in sächsischen SPD-Kreisen ein Szenario für die kommende Landtagswahl die Runde. Tiefensee, so das Motto, könnte in vier Jahren doch noch in den Sachsen-Wahlkampf eingreifen - als SPD-Spitzenkandidat mit Ministerweihen. "Wir haben alle Optionen für 2009", heißt es aus dem Umfeld von Jurk. Dabei kommt den Sozialdemokraten ein Umstand gerade recht. Nach jetziger Lesart wird dann parallel gewählt, in Sachsen und im Bund. Bisher aber schnitt die SPD im Freistaat bei Bundestagswahlen stets wesentlich besser ab als bei Landtagswahlen. Folge: Der gemeinsame Urnengang könnte letztlich der SPD nützen - auf Kosten der CDU.
Jürgen Kochinke