Karl Nolle, MdL

Neues Deutschland ND, 13.07.2006

»Ihr Lob trifft mich in keiner Weise«

Mehrmals beging die SPD in den letzten Tagen Herbert Wehners 100. Geburtstag und ehrte ihn, indem sie sich nützte
 
Karl Nolle dürfte am Dienstag Herbert Wehner besonders dankbar gewesen sein. Denn mitten in einer der Festveranstaltungen zum 100. Geburtstag des SPD-Politikers bekam der schwergewichtige und innerhalb seiner sächsischen SPD-Landtagsfraktion nicht unumstrittene Abgeordnete durch seinen Fraktionschef Cornelius Weiss ein unerwartetes Lob übergeholfen. Nolle, so Weiss, sei vielleicht der einzige, der es in Sachen Ordnungsrufe im Parlament mit Wehner aufnehmen könne. Wenn auch nicht ganz – immerhin hatte es Wehner als junger KPD-Abgeordneter in seiner Landtagszeit 1930/31 im heutigen Ständehaus in der Elbestadt zu 8 Reden, 3 Schlussworten und 27 kassierten Ordnungsrufen gebracht. »Da musst Du noch ein bisschen arbeiten«, sagte Weiss in versöhnlichem Ton zu Nolle, der in der Vergangenheit mehr als einmal mit seiner Fraktion wegen deren allzu großer Pflegeleichtigkeit in Sachsens großer Koalition über Kreuz lag. Nolle, der den großen Alten noch aus seiner Juso-Zeit in Hannover kannte und es mit dessen Rauhbeinigkeit durchaus aufnehmen kann, quittierte den Vergleich mit sichtlicher Genugtuung. Um hernach alsbald den Beweis gleichen Schrots und Korns anzutreten und über die Harmoniesucht der östlichen Genossen trefflich zu witzeln.

Sonnenschein und allerlei Schnurren

Überhaupt waren die Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des einstigen Anarchisten, späteren Kommunisten und nach dem Krieg wohl einprägsamsten wie prägenden Sozialdemokraten in der Geschichte der Bundesrepublik nicht nur ob der aktuellen Großwetterlage im wahrsten wie übertragenen Wortsinn mit viel Sonnenschein versehen. Wehners Wechsel von der einen in die andere Arbeiterpartei, seine nach wie vor umstrittene Rolle während der stalinistischen Verfolgungsjagden gegen vermeintlich abtrünnige Genossen im Moskau der 30er Jahre, das konfliktbeladene Verhältnis zu Willy Brandt, die Kontakte zu Erich Honecker spielten freilich eine Rolle. Aber: »Das ganze Leben zählt«, hatte der Verfasser der jüngsten Wehner-Biographie, Historiker Christoph Meyer, seine Lesung zum Feste nicht umsonst getitelt. Ganz in diesem Sinne – und geflissentlich ausblendend, dass derlei großzügige Sicht auf die ganze Lebensleistung Millionen Ostdeutschen nach der von Herbert Wehner so herbeigesehnten deutschen Einheit verwehrt wurde – ehrte die SPD-Führung Ende Juni in Berlins Parteizentrale und am Dienstag in der Elbmetropole ihren oft grantigen wie bisweilen sehr menschlichen Fraktionschef von einst. Als Architekten der ersten großen Koalition, »Onkel« der Genossen, Strategen, Zuchtmeister, Kärrner, Parteipatrioten, Unterhändler der Freikäufe ausreisewilliger DDR–Bürger – als Jahrhundertpolitiker schlechthin.

Dass es bei all dem nicht nur feierlich, ernst und bisweilen sogar so trocken zuging, dass Wehner-Witwe Greta bei der Festveranstaltung des SPD-Parteivorstandes im Berliner Willy-Brandt-Haus ungeniert ihr Stullenpaket auspackte und sich einen herzhaften Biss genehmigte, liegt im Naturell des Jubilars. So erlebte manche schon tausend mal erzählte Episode fröhlich Urständ. Die Entschuldigung Wehners beispielsweise, der die Hälfte der Bundestagsabgeordneten als Pfeifen bezeichnet hatte und nach Ermahnung des Parlamentspräsidenten erklärte, die Hälfte der Bundestagsabgeordneten seien keine Pfeifen. Wie auch die schon legendäre Geschichte, als der ewig Pfeife Rauchende einem Hinterbänkler der Fraktion empfahl, sich Arschloch zu nennen, weil der die alphabetische Sitzordnung im Bundestag moniert hatte und einen Platz in den vorderen Reihen anstrebte.

Wehner kann sich gegen all die Würdigungen, Deutungen und Schnurren nicht wehren. Vermutlich hätte er bei den Vorträgen seines Nachfolgers im Amte Hans-Jochen Vogel rhetorische Mängel beklagt. Der machte seinem Ruf als Oberlehrer alle Ehre und beschwor bisweilen mit auf dem Rücken verschränkten Armen hin und her marschierend seine Zeitzeugenschaft. Vielleicht aber hätte er auch liebend gern auf die Persiflage des Kabarettisten Dieter Hildebrandt auf seine letzte Rede im Bundestag 1983 zurückgegriffen, in der er Wehner dem hohen Hause trotzig zurufen ließ: »Ihr Lob trifft mich in keiner Weise«.

Die Nachfolger ließen sich jedoch nicht beirren, das derzeit ramponierte Ansehen ihrer SPD mit Hilfe des 100-Jährigen ein wenig aufzupolieren. Ehemalige Kanzler wie Helmut Schmidt und Gerhard Schröder machten Wehner genauso ihre Aufwartung wie Fraktionschef Peter Struck, Parteichef Kurt Beck, Generalsekretär Hubertus Heil und der allgegenwärtige Vizekanzler Franz Müntefering. Interessant war eigentlich nur, wer die Feierlichkeiten mied – oder womöglich nicht geladen war. Egon Bahr, so hieß es, habe kurz vor dem Festakt in Berlin die Parteizentrale fluchtartig verlassen. Und auch die Vertreter der berühmten Brandtschen Enkelgeneration Björn Engholm, Rudolf Scharping und Oskar Lafontaine waren nicht zugegen. Letzterer allerdings war lediglich körperlich abwesend. Denn jeder der Festaktbesucher im Willy-Brandt-Haus musste eine güldene Tafel im Foyer mit der überlebensgroßen Brandt-Skulptur passieren, auf der vermerkt war, dass SPD-Vorsitzender Oskar Lafontaine das Haus am 10. Mai 1996 eingeweiht hatte.

Müntefering übrigens tauchte im Unterschied zu allen anderen Parteigrößen gleich auf allen drei Festlichkeiten zu Ehren Wehners auf, hörte mehr oder weniger aufmerksam zu, lächelte bisweilen huldvoll – und holte endlich am späten Dienstagnachmittag im Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden zur großen Rede aus. Dass er dabei den Jubilar zum Kronzeugen der eigenen Politik machte, war freilich zu erwarten. Schließlich war ihm zuvor von Vogel attestiert worden, zu den wenigen sozialdemokratischen Führungskräften zu gehören, die noch ein wenig vom Wehnerschen Zuchtmeisterstil mit der dazugehörigen Deutlich-, Eckig- und Kantigkeit – und das im Unterschied zum großen Vorbild auch noch in kurzen Sätzen – verkörpern.

Wie der Vizekanzler aber unverblümt Wehner für den Kurs der SPD in der heutigen großen Koalition vereinnahmte, war denn doch ein paar Umdrehungen zu viel. Freimütig bekannte Müntefering, dem Alten, als der die erste große Koalition Mitte der 60er eingefädelt hatte, als Juso einen Brief geschrieben zu haben, »er soll den Quatsch lassen«. Heute wisse er, so der Vizekanzler, dass Wehner richtig lag. Die SPD habe damals erstmals ihre Regierungsfähigkeit bewiesen. Und tut es gegenwärtig nach Münteferings Überzeugung wieder neu.

Jubilar im Schlepptau der Gegenwart

Getreu dem Wehner-Satz, dass das Grundgesetz nicht die Hausordnung der privilegierten Schichten sei, hätte die SPD die Verfassung auf ihrer Seite, »wenn wir für Sozialstaatlichkeit und gegen Marktradikalismus streiten«, erklärte er. Voraussetzung sei jedoch, dass der Staat handlungsfähig bleibe – und schon waren für den Vizekanzler die auch unter den eigenen Genossen heftig umstrittenen Reformen für den Arbeitsmarkt und die Gesundheitsversorgung erklärt. Der Traum immerfortwährender Prosperität sei schließlich vorbei und die Sozialdemokraten dürften nicht für künftige Generationen versagen. Und wenn, wie Wehner einmal gesagt haben soll, Sozialpolitik nicht Sanitätskolonne sein dürfe, die der Entwicklung mit dem Pflasterkasten hinterherfahre, müsste die große Koalition heute so und nicht anders handeln.

Auch wenn Müntefering einräumte, dass der frühere Fraktionschef sicher für die Heutigen ein paar Ermahnungen parat hätte – so richtig schien er das nicht glauben zu wollen. Gewiss würde der »Mann mit Substanz, Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortung fürs Ganze« den Regierenden seiner Partei auch Mut machen, orakelte der Vizekanzler. Und führte damit vor allem augenscheinlich vor, in einem völlig Recht zu haben – jemanden von Wehnerschem Format trifft man eher selten.
Von Gabriele Oertel