Karl Nolle, MdL
Sächsische Zeitung, 11.06.2007
Justitia und die Frühstücksdirektoren
Nie wieder, sagt Raphael Schmidt, übernimmt er ein Amt. Eine Unterschrift als Aufsichtsratsmitglied bereitet dem Görlitzer bis heute schlaflose Nächte.
Am liebsten würde Raphael Schmidt hinaufsteigen und der Justitia die Augen verbinden – so, wie es sich für die Göttin der Gerechtigkeit eigentlich gehört. Die schöne Statue am Görlitzer Rathaus hat ihm nicht geholfen. Eigentlich hat Justitia überhaupt niemandem geholfen in diesem unsäglichen Rechtsstreit, der viel mehr ist als nur eine Posse in der Provinzpolitik.
Es geht um den Verkauf der städtischen Mülldeponie, und es geht um einen Vertrag mit einem Analyselabor, den der bis dato unbescholtene Görlitzer Stadtrat Raphael Schmidt unterschrieben hat – gemeinsam mit dem Geschäftsführer und den anderen vier Stadträten, die im Aufsichtsrat der kommunalen Stadtreinigungsgesellschaft saßen. Das ist jetzt neun Jahre her.
Justitias Nachspiel erlebt Raphael Schmidt bis heute. Er ist gerichtlich verurteilt: „Erheblich fahrlässig“ soll er gehandelt haben, als er im Juni 1998 seine Unterschrift unter eben jenen Laborvertrag setzte. So befand nach jahrelangem Verfahren das Landgericht Görlitz im Herbst 2005. So bestätigte es das Oberlandesgericht ein Jahr später. Eine Revision ließ der Bundesgerichtshof erst gar nicht mehr zu.
Mit jenem Vertrag wollten die Aufsichtsräte damals der Stadtreinigung die bis dahin bewährte Zusammenarbeit mit dem Analyselabor langfristig verlängern. Bis 2010 wäre damit die labortechnische Kontrolle der Mülldeponie, die zu diesem Zeitpunkt noch der Stadt Görlitz gehörte, geregelt gewesen. „Der Geschäftsführer hatte weitaus günstigere Konditionen für die Stadt ausgehandelt“, sagt Raphael Schmidt.
Aber alles kam anders: Schon einen knappen Monat nach dem Abschluss des Laborvertrages wurde die Mülldeponie an den gerade neu gegründeten regionalen Abfallzweckverband verkauft. Der Geschäftsführer und die beteiligten Aufsichtsräte, so urteilten die Richter im Nachhinein, hätten das wissen müssen und den Vertrag nicht abschließen dürfen. Gegen diese Einschätzung wehrt Schmidt sich bis heute.
Der Verkauf der Deponie war damals nämlich sehr umstritten, erst ein halbes Jahr zuvor hatte der Görlitzer Stadtrat ihn abgelehnt. Und dann die plötzliche Kehrtwende. Mit denkbar knapper Mehrheit von einer einzigen Stimme besiegelte der Stadtrat den Deponieverkauf. Es war nach der Abwahl des damaligen CDU-Oberbürgermeisters Matthias Lechner die erste Sitzung unter dessen SPD-Nachfolger Rolf Karbaum. „Wir hätten das nie für möglich gehalten“, sagt Schmidt verbittert. Zu einem Schleuderpreis, mindestens zehn Millionen D-Mark unter Buchwert, sei die Deponie verkauft worden. Diese Tatsache habe der Stadt Schaden zugefügt, nicht der verlängerte Laborvertrag. Schmidt ist überzeugt, dass da „ganz andere Dinge gelaufen sind hinter unserem Rücken“. Doch die seien nie so richtig zur Sprache gekommen in den Verhandlungen vor Gericht. Details nennt er nicht.
Rathaus-Chef ohne Pardon
Der Abfallzweckverband jedenfalls übernahm die Görlitzer Deponie, er übernahm auch alle möglichen Verträge – nur nicht den mit dem Analyselabor. Der wurde hinfällig. Das Labor verklagte die Stadt auf Schadenersatz und bekam Recht: Es geht um eine Summe von mittlerweile 430000 Euro. Die will die Stadt nun ihrerseits vom damaligen Geschäftsführer und den Aufsichtsräten der Stadtreinigungsgesellschaft zurückhaben.
Der heutige Görlitzer Oberbürgermeister, Joachim Paulick (CDU), kennt in dieser Angelegenheit kein Pardon: „Es gibt nichts mehr zu diskutieren“, sagt er kurz und knapp. Schließlich lägen ja zwei rechtskräftige Gerichtsurteile vor. Die Stadt sei damit geradezu verpflichtet, ihren Anspruch geltend zu machen. Jeden fraktionsübergreifenden Versuch der Stadträte, die Kollegen aus ihren Reihen doch zu entlasten, lehnte er bisher mit seinem Vetorecht ab. Unzählige Tagesordnungspunkte und Sondersitzungen des Görlitzer Stadtrates hat es dazu schon gegeben. Am 18. Juni findet eine weitere statt.
Angst vorm Gerichtsvollzieher
Uneingeschränkten Rückhalt erhält Paulick bisher vom Dresdner Regierungspräsidium. Aufsichtsräte müssten wissen, was sie tun, sagt Sprecher Holm Felber. „Das sind doch schließlich keine Frühstücksdirektoren.“ Solche Äußerungen enttäuschen und entsetzen Raphael Schmidt. So habe er sich das nie und nimmer vorgestellt, als er nach der Wende für die CDU in den Stadtrat einzog. „Mithelfen wollte ich, etwas bewegen in Görlitz.“ Von wegen Frühstücksdirektor! Als ob er der Sache nicht gewachsen gewesen sei. Als ob er nicht gewusst hätte, was er tat. Selbstverständlich habe er sich in der Lage gesehen, die Aufgabe zu übernehmen, als er 1997 in den neuen Aufsichtsrat der Stadtreinigung gewählt wurde. Schließlich hatte er jahrelang Verantwortung als Sachgebietsleiter getragen. Dass er einmal schlaflose Nächte haben werde, Angst, dass eines Tages der Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen könnte und eine fünf-, vielleicht sogar sechsstellige Summe von ihm verlangt, nein, sagt der 46-Jährige, das hätte er sich in einem Rechtsstaat nie und nimmer träumen lassen. „Den Job als Aufsichtsrat, den habe ich als Stadtrat übernommen, ehrenamtlich und nicht aus Spaß oder gar, um da etwas dabei zu verdienen.“
„Erheblich fahrlässig“
Die Sache mit dem Schadenersatz wäre eigentlich ganz klar geregelt: Auch wenn ein Stadtrat in seiner Arbeit „fahrlässig“ einen Schaden verursacht, muss die Stadt dafür eintreten. So steht es in der Gemeindeordnung. Nur wenn einer „grob fahrlässig“ oder gar „vorsätzlich“ handelt, kann er auch persönlich zur Kasse gebeten werden. In Schmidts Fall aber macht Justitia die Sache kompliziert. Denn was heißt „erheblich fahrlässig“ – ein Begriff, den die Rechtsprechung bisher gar nicht kennt? Das ist mehr als „fahrlässig“, befindet man im Görlitzer Rathaus und beharrt auf den Schadenersatzansprüchen gegen die Abgeordneten.
„Erheblich“ bedeute ja ganz bewusst weniger als „grob“, deutet die Mehrheit der Stadträte das Urteil und nimmt nun immer wieder Anlauf, ihre Kollegen von der hohen Geldforderung zu entlasten.
Ganz andere Hintergründe?
Wer nun Recht haben könnte, das soll jetzt ein neuerliches unabhängiges Gutachten klären. Das jedenfalls war das Ergebnis der jüngsten Debatte im Stadtrat. Der Fall wird sich also weiter hinziehen – und weiter Kosten verursachen.
Raphael Schmidt ist nachdenklich geworden. Und er ist überzeugt, dass es in Wirklichkeit um ganz andere Hintergründe geht. Um Vorgänge womöglich, die mit der spektakulären Abwahl des damaligen CDU-Oberbürgermeisters Matthias Lechner zusammenhängen? Um Hintergründe des Deponieverkaufs, die womöglich nicht ans Licht kommen sollen. „Die Frühstücksdirektoren“, sagt er, „die sitzen garantiert woanders.“
Stadtrat in Görlitz ist Raphael Schmidt auch heute noch, mittlerweile allerdings ohne ein Parteimandat. Nie mehr wieder, sagt er, wird er irgendein Amt übernehmen. Erst recht keines in einem Aufsichtsrat. Die Familie habe weniger Freunde seit „der Geschichte“, sagt er. Tochter und Sohn hätten sich daran gewöhnt, ab und an gefragt zu werden, ob der Vater denn ein Verbrecher sei. Darüber kann er nur noch müde lächeln.
Von Jana Ulbrich