Karl Nolle, MdL

Rede auf dem außerordentlichen Parteitag in Markneukirchen, 14.07.2007

"Der Traum von einer diskutierenden, nach klaren politisch-moralischen Grundsätzen pragmatisch handelnden Partei."

Meine Empfindungen als Sozialdemokrat, meine persönliche Motivation – Wege, Ziele, und Chancen.
 
Wegen der kurzen Redezeit werde ich heute weder über die sächsischen Koalition noch die CDU sprechen, weder über den Untersuchungsausschuss noch über die umgetaufte Linke und auch nicht über die SPD in der Diaspora?

Ich möchte über meine Empfindungen als Sozialdemokrat sprechen, über meine ganz persönliche Motivation, über Wege und Ziele, über unsere Chancen.

Vor 44 Jahren, an meinem 18. Geburtstag, bin ich der SPD beigetreten, weil ich hoffte und glaubte, daß ich hier die besten Möglichkeiten hätte, für die politischen Ziele zu wirken, die mir am Herzen lagen. Anfangs begegneten uns viele ältere Parteimitglieder, vielen meiner Generation und mir, eher mit Mißtrauen, und auch heute bin ich nicht immer sicher, ob ich den Genossen willkommen bin.

Dennoch ist bei mir eine starke Bindung entstanden - und nicht nur durch meine Familie - an das Programm der Partei, an ihre Geschichte, an ihre Kämpfe und Erfolge und an die vielen Menschen in ihren Reihen, mit denen ich um die richtigen politischen Konzepte gestritten und mit denen ich gemeinsam über viele Jahre für sozialdemokratische Ideen und Reformen eingetreten bin.

Manche der Genossen, mit denen ich jahrzehntelang in der SPD zusammengearbeitet habe, sind irgendwann aus der Partei ausgetreten, auch Leute, die wichtige Vorbilder für mich waren, z.B. mein politischer Ziehvater Prof. Dr. Peter von Oertzen, SPD-Vorsitzender im Bezirk Hannover, niedersächsischer Kultusminister, jahrelang Mitglied des Vorstandes der Bundespartei,
und einer der großen Theoretiker der Rätebewegung. Peter von Oertzen hat noch im betagten Alter von 85 Jahren sein Parteibuch abgegeben.

Aber selbst dann, wenn ich die Gründe für manche Austritte nachvollziehen konnte, habe ich einen solchen Schritt mit dieser Konsequenz nie ernsthaft erwogen, nicht, als die SPD unter Rot/Grün der Reihe nach Wahlversprechen gebrochen hat und auch nicht, als nach dem Abgang Oskar Lafontaines die SPD unter Schröder neoliberal wurde und mit den Hartz-Reformen einen Großteil ihrer sozialen Glaubwürdigkeit kaum rückholbar verspielte.

Ich habe die, nach meiner Meinung, falsche Politik meiner Partei hart und öffentlich kritisiert, habe mit den mir gegebenen geringen Möglichkeiten darauf hinzuwirken versucht, daß es zu Korrekturen kam. Aber an Austritt habe ich nicht gedacht. Auch deshalb nicht, weil ich nicht glaubte und glaube, daß die Durchsetzung meiner politischen Vorstellungen außerhalb der SPD leichter wäre.

Es gab Zeiten, da konnte man als SPD -Mitglied den unvergesslichen Eindruck haben, Teil einer großen geschichtlichen Fortschrittsbewegung zu sein, einer sozialen Bewegung, die das ganze Land erfaßte, die die Menschen aufrührte und dem politischen Gegner das Fürchten lernte.
Das galt vor allem in den ersten Jahren der sozial-liberalen Koalition, als Willy Brandt voller Elan daranging, mehr Demokratie zu wagen und mit der Ost- und Entspannungspolitik Europa und die Welt zu verändern.
Und auch als sich die SPD an die Spitze der Bewegung für Frieden und Abrüstung setzte.

Und dann gab es Zeiten, in denen die SPD ziemlich richtungslos schlingerte und viele Mitglieder nicht mehr zu wissen schienen, wozu ihre Partei, die Sozialdemokratie eigentlich da war.

Ich gebe zu, ich hatte immer großen Respekt vor jenen Mandatsträgern der Partei, die auch dann zu ihren sozialdemokratischen Auffassungen standen, wenn diese ganz offensichtlich nicht dem Zeitgeist entsprachen. Und an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich unsere drei Bundestagsabgeordneten nennen, die vor einigen Wochen bei der Abstimmung zum Mindestlohn gestanden haben.

In den Jahren mit Kanzler Schröder, als die SPD sich vom neoliberalen Zeitgeist anstecken ließ, habe ich immer wieder versucht, den Widerstand in der Partei gegen die, wie ich fand und immer noch finde, unsozialdemokratische Politik der Hartz-Reformen zu stärken und zu verhindern, daß immer mehr Sozialdemokraten, frustriert über die Politik ihrer eigenen Regierung, sich von der Partei und von der Politik insgesamt abwandten.

Nein - die Partei jenen widerspruchsfrei überlassen, deren Politik ich kritisierte, das kam mir nicht in den Sinn.

Manchmal wird mir deshalb von anderen Linken mangelnde Konsequenz vorgeworfen:
Wenn du die Agenda 2010 für unsozialdemokratisch hältst, wieso bist du dann eigentlich noch in der Partei?

Ich verweise dann gerne darauf, daß an der Veränderung der kritisierten Politik zu arbeiten immer besser ist, als sich aller Einwirkungsmöglichkeiten zu begeben, auch wenn es weh tut.

Ich kann es ertragen, in einer Partei zu sein, in der die Meinungen manchmal ziemlich weit auseinandergehen. Aber ich bestehe darauf, daß Meinungsvielfalt kein Hinderniss sondern eine Grundbedingung für Demokratie ist. Das offene Kommunikation und persönliche Unabhängigkeit dafür konstitutiv sind, auch in unserer sächsischen Partei, auch wenn das lange anders war.

Ich persönlich habe die Sorge, daß wir mit den m.E. notwendigen Kurswechsel unserer Partei, von dem eben auch Stefan Brangs gesprochen hat, das wir diesen Kurswechsel nicht hinbekommen, weil er nicht gewünscht wird. Aber was wäre, wenn sich der Charakter unserer SPD weiter grundsätzlich wandelte, wenn sie sich nicht mehr als Schutzmacht der kleinen Leute verstünde, sondern vor allem als Interessenvertretung einer aufstiegsorientierten neuen Mitte? Was wäre dann ? Und sind wir nicht schon mitten auf dem Weg dorthin?

Unser Leitantrag P 01zur Programmdiskussion hat den schönen Titel: „Nachdenklich vorausdenken.“ Ines und Andreas haben gerade diesen Antrag vorgestellt und von „Würde“ gesprochen.

„Würde hat keinen Preis, alles andere in der Welt hat einen Preis nur der Mensch hat Würde“ erklärte der große Philosoph Emmanuel Kant in seinen „Vorlesungen zur Metaphysik" auf die Frage „Was ist der Mensch?“

Was ich nicht ertragen kann ist, daß man Leistungsschwächere als Bürger zweiter Klasse, Rentner als lästige Kostgänger, Arbeitslose als Drückeberger und Arme als Sozialbetrüger behandelt. Damit sprechen wir ihnen das wichtigste ab, ihre Menschenwürde.

Viele haben nie verstanden, warum die Hartz-Reformen so viele Sozialdemokraten und Wähler derart tief verletzten. Es ist die Verletzung der Menschenwürde, die mit dieser Ungleichbehand-lung verbunden ist.

Weil unter unserer Verantwortung bei Rentnern, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern gekürzt wurde, während am oberen Ende der Einkommensskala die Zahl der Millionäre und Milliardäre sprunghaft steigt.

Es geht nicht um Almosen sondern um erkämpfte und gesicherte Rechte. Auch in der Feudalgesellschaft übernahmen die adeligen Herren soziale Verantwortung für die leibeigenen Bauern und es war Christenpflicht, den Armen Almosen zu geben. Aber darum geht es bei uns Sozialdemokraten eben nicht.

Wenn Freiheit nicht weiter zum Privileg der Mächtigen und Vermögenden werden soll, wenn wir unsere Demokratie ernst nehmen und aus Machtlosen und Gedemütigten - Staatsbürger mit allen Rechten machen wollen, dann ist Umverteilung von Macht, Besitz und Einkommen, dann sind staatliche Ausgleichsleistungen nicht, wie manche führende Sozialdemokraten behaupten, überholte Forderungen, sondern Kernbestandteil sozialdemokratischer Politik.

Kleinmütige Anpassung an den neoliberalen Zeitgeist ist das Falscheste, was wir tun können. Denn mehr Markt führt zwangsläufig zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft, zu massenhafter Demütigung der Leistungsschwächeren und der weniger Glücklichen, zu einer weiteren Schwächung des Staates und damit zugleich zu einem weiteren Abbau sozialer Ausgleichsleistungen und damit zu massenhafter Auswanderung aus der Demokratie. Aber die Wirtschaft muß dem Menschen dienen und nicht umgekehrt.

Die neoliberal infizierte Reformpolitik führte, wie wir erfahren haben, zu einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, und andererseits zu immer größerer öffentlicher Armut und damit schwindenden Möglichkeiten staatlicher Intervention, sodaß die materiellen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung und der großen Mehrheit der sozialdemokratischen Anhänger immer weniger befriedigt werden konnten. So haben wir am laufenden Band Wahlen verloren. Mir war das nie egal, weder die verlorenen Wähler waren mir egal noch die verlorenen Genossen.

Früher wußte ich und glaubte daran, daß diese SPD eine Versammlung kritischer, selbständiger Köpfe ist, klar in ihren Grundsätzen und unerschütterbar in ihrem Engagement für die Mühseligen und Beladenen. Menschen die jederzeit bereit sind, sich der veränderten Realität zu stellen, diskussionsfreudig und mißtrauisch gegenüber hohlen Phrasen und bombastischen Inszenierungen, an nichts als der Wahrheit interessiert und mutig, wenn es darum geht, das schlechte Bestehende zu verändern. Die Sehnsucht danach schlummert noch heute in vielen von uns.

Aber natürlich weiß ich auch, daß es eine ganz andere Partei gibt, die der kalten Politprofis, der Karrieristen und gedankenlosen Mitläufer, der mausgrauen Delegierten auf Bundesparteitagen, die es nicht wagen ihrem Kanzler oder Vorsitzenden zu widersprechen, und die, wider besseres Wissen, eine Politik absegnen, die sie weder vor sich selbst, noch vor ihren Wählern verantworten können.

Aber ist nicht der argumentative Streit die Essenz der Demokratie? Hängt nicht die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen – auf Parteitagen ebenso wie im Parlament –, hängt nicht ihre bindende Wirkung davon ab, daß ihnen eine offene und faire Diskussion mit sorgfältiger Prüfung des Für und Wider vorangegangen ist?

Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, die SPD, meine Partei, könne dem Bild wieder ein wenig ähnlicher werden, das sich in mir festgesetzt hat, dem Bild der diskutierenden, nach klaren politisch-moralischen Grundsätzen pragmatisch handelnden Partei, die gegen Geld und Medienmacht auf die große Zahl ihrer engagierten und informierten Mitglieder setzt, die eher den Konflikt mit den Mächtigen wagt, als den Schwächsten weitere Lasten und Demütigungen zuzumuten.

Eine Partei, die sich nicht einreden läßt, daß der Kapitalismus das letzte Wort der Geschichte sei, sondern daran festhält, daß Freiheit, wenn sie universelle Geltung haben soll, nicht von der Forderung nach Gleichheit getrennt werden darf und daß alle Macht – im Staat, in der Wirtschaft und in den Medien – demokratischer und rechtsstaatlicher Kontrolle unterliegen soll – ein Bild zu schön um wahr zu sein?

An diesem Bild halte ich fest, und will es nicht aufgeben, weil ich, wenn ich es aufgäbe, meinen Glauben an die Kraft von Aufklärung und Vernunft aufgäbe und dann könnte ich meine Seele gleich mit verloren geben.

Passen wir auf, daß uns bei allem was wir hier tun, unsere sozialdemokratische Seele nicht verloren geht!

Danke.