Karl Nolle, MdL

ZEIT online 16.11.2007 - 13:20 Uhr, 16.11.2007

Gefährliche Spuren

In Leipzig wurde ein Chefermittler kaltgestellt - womöglich, weil er in dem sächsischen Rotlicht- und Korruptionsskandal die falschen Fragen stellte. Denn vorzuwerfen ist ihm nichts.
 
Es ist eine denkwürdige Ehre. Der Leipziger Kriminalhauptkommissar Georg Wehling dürfte bisher der einzige sächsische Polizist sein, der direkt von seinem Innenminister suspendiert wurde. Die Vorwürfe klingen eindeutig: Als Chefermittler im Bereich Organisierte Kriminalität (OK) soll er in der Sachsen-Affäre, die seit Monaten das Land in Atem hält, Informanten und Akten nicht vorschriftsmäßig geführt haben. So steht es im Abschlussbericht einer länderübergreifenden Prüfgruppe. Innenminister Albrecht Buttolo (CDU) hatte sie beauftragt, die OK-Ermittlungsarbeit der sächsischen Polizei zu durchleuchten.

Unter Leitung von Ingmar Weitemeier, Chef des Landeskriminalamtes von Mecklenburg-Vorpommern, hatten zwölf Experten die Akten spektakulärer Fälle untersucht. Fälle, die beim sächsischen Verfassungsschutz den Verdacht nährten, nach der Wiedervereinigung hätten sich vor allem in Leipzig kriminelle Netzwerke gebildet. Ein „Sachsensumpf“ aus illustren Beteiligten: Justizbeamte, städtische Bedienstete, Immobilienhändler und Rotlichtgrößen. Ihre angeblichen Taten: Grundstücksschiebereien, Prostitution mit Minderjährigen, sogar die verschleppte Aufklärung eines Attentats.

Neben dem Verfassungsschutz ermittelte auch Georg Wehling mit seinem OK-Kommissariat 26. Bis er 2003 zum ersten Mal kaltgestellt wurde – weil er bei der Führung von Informanten und Akten geschlampt haben soll.

Exakt die gleichen Dienstverstöße wirft ihm jetzt die Weitemeier-Kommission noch einmal vor. Es gebe keine Anhaltspunkte für ein kriminelles Netzwerk, so das Fazit der Experten, aber jede Menge Fehlverhalten bei Chefermittler Wehling. Offenbar blieb den Prüfern verborgen, dass längst widerlegt ist, was sie dem Polizisten ankreiden. Alle neun Disziplinar- und Strafverfahren, die seinerzeit gegen Wehling eingeleitet worden waren, wurden schon vor Jahren eingestellt.

Doppelspiel

Aber Innenminister Buttolo tat so, als seien die Vorwürfe gegen den Leipziger Beamten neu und ungeklärt. Auf einer Pressekonferenz am 2. November schloss sich der CDU-Politiker dem Urteil der Experten an. Als erste Konsequenz teilte er die Suspendierung des Hauptkommissars mit. Georg Wehling hatte zu diesem Zeitpunkt sein Beurlaubungsschreiben bereits gelesen und die Dienstwaffe abgegeben.

Doch die Gründe, die Buttolo dem Polizisten nannte, sind offenbar ganz andere als die öffentlich verkündeten. Das geht aus einer Erklärung von Wehlings Anwalt Steffen Soult hervor.

Am 21. Juni dieses Jahres brachte das ZDF-Magazin Frontal 21 ein Interview mit dem Leipziger Kommissar, in dem er unter anderem den Verdacht äußerte, Abhörmaßnahmen seien gezielt an Kinderschänder verraten worden. Jetzt wird Wehling vorgehalten, er habe in der Sendung unerlaubt Dienstliches ausgeplaudert, eine Lichtbildmappe mit Verdächtigen gezeigt und den Journalisten sogar Akten überlassen. Ullrich Stoll, der Autor des Beitrags, kontert: „Ich habe eidesstattlich versichert, dass Wehling uns kein Material gab. Außerdem hatten wir eine schriftliche Aussagegenehmigung des Leipziger Polizeichefs.“ Und die Lichtbildmappe? Auf der Internetseite von Frontal 21 kann sich jeder überzeugen, dass sie nicht von dem Beamten in die Kamera gehalten wird.

Auch ein weiterer Suspendierungsgrund löst sich in Luft auf. Drei Strafanzeigen lägen in Dresden und Leipzig gegen Wehling vor, ließ Minister Buttolo den renitenten Polizisten wissen. Als Wehlings Anwalt Soult darauf hin Akteneinsicht bei den Staatsanwaltschaften verlangte, wurde ihm erklärt, diese Anzeigen gebe es gar nicht.

Wer ist Gemag?

Die sächsische Verfassung gebietet wie in anderen Ländern ausdrücklich eine Trennung von Polizei und Geheimdienst. Deshalb wirkt die dritte Begründung für Wehlings Zwangsurlaub zunächst triftig: Der Polizeibeamte habe illegal und heimlich mit dem Landesamt für Verfassungsschutz zusammengearbeitet. Dem entgegnet Soult: „Mein Mandant hat sich im Mai 2006 zweimal auf seiner Dienststelle mit der zuständigen Verfassungsschützerin getroffen. Seine Vorgestetzen waren informiert“. Damit hätte sich Wehling an die Regeln gehalten, denn offizielle Kontakte zwischen den Behörden sind erlaubt.

Zumal der Verfassungsschutz Informationen von der Polizei brauchte. Denn er hatte erst 2003 - auf Drängen der damals noch allein regierenden CDU - angefangen, die Organisierte Kriminalität im Land zu beobachten. Das OK-Referat des Geheimdienstes wurde allerdings Mitte 2006 schon wieder aufgelöst, nachdem das sächsische Verfassungsgericht interveniert hatte. Zurück blieben 15.600 Aktenseiten, auf denen ein schwerer Verdacht den nächsten jagt.

Neben Plauen und Chemnitz geht es besonders um Leipzig und mögliche Korruptionsfälle dort bei der massenhaften Privatisierung städtischer Immobilien. Auch sollen sich Justizbeamte durch Besuche in einem Minderjährigenbordell erpressbar gemacht haben.

Im Mai dieses Jahres berichteten die Leipziger Volkszeitung und der Spiegel erstmals über die schweren Vorwürfe. Die oppositionelle Linkspartei schob die Schuld an den angeblichen Missständen auf die Union und witterte ihre Chance, die Christdemokraten nach 17 Jahren an der Macht aus der Regierung zu drängen. Die Landesregierung, in der die CDU den Koalitionspartner SPD dominiert, versprach Aufklärung und geriet dennoch immer stärker in die Defensive.

Das änderte sich erst am 3. Juli, der Tag, an dem der Verfassungsschutz den Polizisten Georg Wehling als vermeintliche verdeckte Quelle enttarnte. Seitdem gelten die Leipzig-Akten als vergiftet. Die leitende Verfassungsschützerin Simone H., so die offizielle Lesart, habe suggeriert, Wehlings Ermittlungsakten seien ihr von einer anderen Quelle - Deckname Gemag - bestätigt worden. Allerdings verberge sich hinter "Gemag" niemand anderes als der Beamte selbst. Nach Recherchen von ZEIT online hat Simone H. unter dem Decknamen Gemag jedoch Informationen mehrerer Polizisten gesammelt.

Allein damit wäre hinfällig, was die CDU in ihrer "Nichts dran"-Kampagne seit dem Sommer behauptet: Der „Sachsensumpf“ sei im Wesentlichen ein Hirngespinst, ausgeheckt von der durchgedrehten Verfassungsschützerin Simone H. und Wehling, aufgepustet durch eine Medienkampagne der Linkspartei.

Ein Eindruck bleibt: Innenminister Albrecht Buttolo hat Wehling unter fadenscheinigen Vorwänden suspendiert. Weiß der Politiker es nicht besser oder täuscht er die Öffentlichkeit bewusst? Buttolo warnte noch im Juni, auf dem Höhepunkt der bundesweiten "Sachsensumpf"-Berichterstattung, im Dresdner Landtag, die Organisierte Kriminalität werde zurückschlagen. Inzwischen spielt er den Getäuschten, auf den Leim geführt von Simone H. und Wehling.

Buttolo bestellte deshalb die externen Prüfer, um die Arbeitsweise von Polizei und Verfassungsschützern im Bereich Organisierte Kriminalität zu untersuchen. Die Experten ermittelten freilich nicht, was an den "Sachsensumpf"-Vorwürfen stimmt oder nicht. Sie hatten vielmehr lediglich den Auftrag, Zuständigkeiten, Akten- und Informantenführung sowie die Kontrollen durch Vorgesetzte zu beurteilen.

Beim Verfassungsschutz traten grobe Mängel zutage: Vor allem gegen Ende der OK-Beobachtung seien Informationen nur noch unkritisch gesammelt worden, das zuständige Referat habe aufgrund fehlender Aufsicht ein "Eigenleben" entwickelt.

Dennoch entbehrt es jeglicher Logik, wenn Kommissionschef Dietrich Beyer, ein ehemaliger Ermittlungsrichter, gleich die gesamte Aktensammlung von 15.600 Seiten "in die Nähe heißer Luft" rückt. Zumal sein Kontrollteam nur einen von zehn Mitarbeitern befragte. Bei der Polizei wurde Wehling mit den längst widerlegten Vorwürfen zur Fehlerquelle Nr. 1 erklärt. Anhaltspunkte für kriminelle Netzwerke konnte Chefprüfer Ingmar Weitemeier beim Aktenstudium hingegen nicht entdecken.

Eine heiße Spur?

Eine Merkwürdigkeit fiel jedoch sogar dem Weitemeier-Team auf: Die Ermittlungen zum Anschlag auf Martin Klockzin - ein Leipziger Schlüsselfall, der auch Bestandteil der "Sachsensumpf"-Akten des Verfassungsschutzes ist. Die mutmaßlichen Auftraggeber des Attentats auf den städtischen Immobilienmanager waren im Sommer 1995 - knapp ein Jahr nach den fast tödlichen Schüssen - bekannt. Dennoch wurde nicht gegen die beiden Grundstücksmakler aus dem Allgäu ermittelt, was nach vielen Medien nun auch die Experten erstaunte. Erklären können Weitemeier & Co. die Panne jedoch nicht – weil das nicht ihr Auftrag war.

Bis heute ist ungeklärt, ob Juristen und Politiker Einfluss auf die Klockzin-Ermittlungen nahmen. Erst 1999 gelang es Georg Wehling, die Hintermänner mit einer Abhöraktion zu überführen. Dabei stieß Wehling auf Verbindungen zum 1993 aufgeflogenen Minderjährigenbordell „Jasmin“. Der Polizist vernahm den Bordellbesitzer. Der sagte aus, er sei nur deshalb mild bestraft worden, weil er keine Freier nannte. Wehling ließ den ehemaligen „Jasmin"-Mädchen Fotos möglicher Kunden vorlegen. Vorher hatte niemand danach gefragt.

Diese Ermittlungen erklärt Weitemeier in seinem Abschlussbericht erstaunlicherweise für unbegründet. Zu ZEIT online sagte der mecklenburgische LKA-Chef: „Es ist nicht wahr, wenn das ´Jasmin` heute immer als Kinderbordell bezeichnet wird. Lediglich eins der Mädchen war unter 14 Jahren.“ Weitemeier redet, als spreche er über ein Kavaliersdelikt. Außerdem übersieht der Fachmann, was in den Akten steht: Im „Jasmin“ mussten mindestens drei Minderjährige – 14 und 15 Jahre alt – anschaffen. Nicht nur die Bordellbetreiber, auch Freier, die sich ihrer bedienten, machten sich strafbar. Deshalb wäre es die Pflicht der Polizei, sie zu ermitteln.

Bis heute weiß außer den Betroffenen niemand, ob es tatsächlich kriminelle Netzwerke im Freistaat gibt oder nicht. Indizien sind da, Beweise fehlen.

Bei der Aufklärung müssen sich die Sachsen noch gedulden. Ein Sonderteam von zehn Dresdner Staatsanwälten durchforstet seit Monaten die Verfassungsschutzakten und vernimmt Zeugen. Über den Stand schweigen die Ermittler sich aus. Der Untersuchungsausschuss, den die Opposition aus Linkspartei, Grünen und FDP durchgesetzt hat, ist blockiert. Weil die Landesregierung von Ministerpräsident Georg Mibradt (CDU) den überscharf formulierten Untersuchungsauftrag ablehnt, muss das Verfassungsgericht entscheiden. Das wird nicht vor Januar geschehen.

Der politische Abnutzungskrieg, der seit dem Frühjahr in Sachsen tobt, lässt auch mögliche Zeugen nicht unberührt. Inzwischen haben einige resigniert. Andere, die auspacken könnten, fürchten um ihre Sicherheit.

Georg Wehling vertraut erst einmal auf seinen Anwalt. Die Landesregierung dagegen hat sich auf die Version „heiße Luft“ festgelegt und stattdessen auf den Polizisten eingeschossen. Dabei zu bleiben, dürfte ihr nun schwerer fallen.

Doch vorerst sieht sie offenbar keinen Anlass für weitere Konsequenzen. Auf Anfrage teilte Innenminister Buttolo lediglich mit, der Bericht der von ihm eingesetzten Prüfkommission mache deutlich, "dass die Arbeit der Polizei im Großen und Ganzen nicht beanstandet wird." Aber bei der Polizei gebe es, "wie überall auch mal Fehler" und Fehlleistungen Einzelner. Als Ergebnis sei ein Mitarbeiter (gemeint ist Wehling) suspendiert worden, gegen weitere Mitarbeiter würden disziplinarrechtliche Schritte geprüft.

Außerdem kündigte Buttolo neue Vorschriften, Fortbildungsmaßnahmen und organisatorische Änderungen an. Dazu, dass der Chefermittler offenkundig aus fadenscheinigen Gründen kaltgestellt wurde, sagt der wackere CDU-Minister jedoch bislang nichts.
Von Thomas Datt und Arndt Ginzel

http://www.zeit.de/online/2007/47/sachsen-affaere