Karl Nolle, MdL

spiegel-online, 21.05.2008

PRÄSIDENTENAMT: Warum Deutschland Gesine Schwan braucht

Ein Kommentar von Claus Christian Malzahn
 
Eine brillante Denkerin, moralisch integer: Die Kandidatur von Gesine Schwan für das Präsidentenamt wäre weit mehr als ein Befreiungsschlag für die kranke SPD. Schwan braucht das höchste Staatsamt nicht - aber Deutschland braucht eine Präsidentin wie Schwan.

Berlin - Manchmal gibt es in der Politik doch so etwas wie späte Gerechtigkeit. Im nächsten Jahr könnten ausgerechnet die Konkursverwalter des realen Sozialismus einer Politikwissenschaftlerin ins höchste Staatsamt verhelfen, die 1984 noch wegen Antikommunismus und Rechtsabweichung aus der Grundwertekommission der SPD geflogen ist.

Gesine Schwan gehörte damals zu den (wenigen) Sozialdemokraten, die allzu vertraulichen Umgang mit den Repräsentanten kommunistischer Regimes in Osteuropa kritisierten.

Intellektuelle Sozialdemokraten wie Erhard Eppler planten Dialogpapiere mit der SED, die Intellektuelle Gesine Schwan suchte lieber das Gespräch mit Dissidenten. Willy Brandt weigerte sich damals, den polnischen Arbeiterführer Lech Walesa in Danzig zu treffen und hielt es – aus ehrenwerten Gründen - lieber mit der Warschauer Junta. Dieses zuweilen peinliche Kapitel ihrer Geschichte hat die SPD inzwischen so erfolgreich verdrängt, dass ihr die Parallelen bei der Debatte um den Empfang des Dalai Lamas in den vergangenen Tagen selbst gar nicht mehr in den Sinn gekommen sind.

Freiheit, Diktatur, Realpolitik – diese Diskussion war in Deutschland natürlich schon mal da, sie zieht sich als roter Faden bis zum Mauerfall durch die gesamte Entspannungspolitik. Knapp 20 Jahre danach stellt sich für die SPD erneut die Frage, wie man mit dem real existierenden Sozialismus im Lande umgehen soll. Dass dieses Phänomen inzwischen auf die Dimension einer konkurrierenden Partei zusammengeschrumpft ist, macht die Debatte nicht weniger brisant. Sie betrifft nicht nur die SPD, sondern die ganze Republik. Schwans Expertise in dieser Sache wird ihr wichtige Beiträge ermöglichen - jenseits von Hysterie und Beschwichtigung.

Umso absurder ist es, dass Gesine Schwan nun von der kalt erwischten Union bereits zur gruseligen Repräsentantin einer rot-rot-grünen Regierung aufgebaut werden soll. "Es darf nicht sein, dass das höchste Staatsamt der Bundesrepublik mit den Stimmen von Verfassungsfeinden wie der Linkspartei gewählt wird", warnt die CSU schon vorsorglich. Andersrum wird ein Schuh draus: Wenn die Verfassungsfeinde der Linkspartei Gesine Schwan zur Bundespräsidentin wählen, dann sind sie auf dem besten Weg zu ihrem Bad Godesberg. Vorwärts, weiter so, Genossen!

Auch deshalb wäre Schwans Kandidatur ein schönes Beispiel für historische Dialektik. Angesichts ihrer Vita eignet sich die Uni-Rektorin gerade nicht zur Repräsentantin des Linksrucks – jedenfalls nicht in dem Sinne einer plumpen Verkörperung linker Ideologien.

Gesine Schwan ist vor allem eine brillante Denkerin. Sie braucht das höchste Staatsamt nach ihrer akademischen Karriere nicht; das Amt aber braucht Menschen wie sie. Schwan hat als Berliner FU-Professorin geholfen, dem wegen linksradikaler Auswüchse völlig aus der Spur geratenen Otto-Suhr Institut zu neuem wissenschaftlichen Ansehen zu verhelfen. Und sie hat sich als Präsidentin der Viadrina-Universität in Frankfurt/Oder und Slubice einer Aufgabe gestellt, die zwar nicht immer vergnügungssteuerpflichtig, aber politisch umso dringlicher ist: Der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen.

Sie würde es nicht allen Recht machen - zum Glück

Von einer Bundespräsidentin, die polnisch spricht, die jeden Tag mit jungen Deutschen und jungen Polen zu tun hat, kann man einiges erwarten. 60 Kilometer östlich von Berlin hat Gesine Schwan geholfen, das neue Europa zu entwerfen – bemerkt haben es bisher wenige. Sollte Schwan im nächsten Jahr gewinnen, darf man sogar wieder auf jenes Wunder hoffen, das wir bei den lächelnd eingefrorenen Beziehungen zwischen Berlin und Warschau endlich bräuchten: Eine verbindliche, gemeinsame Sicht von Deutschen und Polen auf ihre untrennbar verknüpfte Geschichte. Was mit Paris gelungen ist, steht mit Warschau noch aus.

Zu so einer Aufgabe braucht es Mut. Gesine Schwan wäre glücklicherweise keine Präsidentin die es allen Recht machen wollte. Sie schätzt Beifall, aber sie definiert sich nicht über dessen Stärke - wie der derzeitige Bewohner in Bellevue. Monster-Finanzmärkte? Solche plumpen Vokabeln würde die Expertin für politische Theorie – Schwerpunkt: Marxismus – sicher nicht verwenden. Auch auf eine bierzeltige Ruck-Rede im Hotel Adlon müsste man verzichten. Natürlich kann man nie wissen, welche Spuren ein Bundespräsident im Amt hinterlassen wird. Bei Gesine Schwan dürfte man zumindest hoffen, dass es für die Republik nicht wieder verlorene Jahre sein werden wie bei manchen Vorgängern.

Für die Republik wäre Schwan als Präsidentin vermutlich ein Glücksgriff, für die SPD ein Befreiungsschlag aus der gefährlichen Belagerung von Merkel und Lafontaine. Die SPD wäre plötzlich wieder da, mit einem ebenso freundlichen wie wachem Gesicht. Die Partei könnte endlich eine ehrliche Debatte darüber beginnen, wohin die deutsche Sozialdemokratie eigentlich will – und mit wem.

Denn die SPD liegt unter der "Führung" von Kurt Beck im Wachkoma und drückt sich vor den entscheidenden Zukunftsfragen, die man vor – und nicht nach – einer Kooperation mit den Linken stellen müsste: Wie buchstabiert man heute Westbindung? Bedeutet mehr Gerechtigkeit einfach mehr Staatsquote? Wie redet man nicht nur über bessere Bildungspolitik, sondern erreicht sie auch?

Noch hat die SPD sich nicht festgelegt, sie spielt bloß mit dem Gedanken an eine Kandidatur Schwans. Es wäre absurd, wenn die sozialdemokratische Führung die Causa Bellevue davon abhängig machen würde, ob Horst Köhler zu einer zweiten Amtsperiode bereit ist. Horst Köhler hätte aus heutiger Sicht zwar die größeren Chancen. Aber die SPD hat schon in weit auswegloseren Situationen Kandidaten benannt - zum Beispiel, als der Staatsrechtler und Grundgesetzautor Carlo Schmid gegen Heinrich Lübke unterlag.

Die Große Koalition kann kein Grund sein, seine Identität aufzugeben. Das Bündnis mit der Union hinderte die SPD auch 1969 nicht, den Sozialdemokraten Gustav Heinemann erfolgreich gegen den Konservativen Gerhard Schröder ins Rennen zu schicken. Als Gesine Schwan am 23. Mai 2004 gegen Horst Köhler unterlag, war das Ergebnis für den Unionskandidaten knapper als zuvor angenommen. Schwan war im Wahlkampf gelungen, was es vorher kaum gab: Sie hatte einzelne Wahlmänner und -frauen in persönlichen Gesprächen von sich überzeugt. Warum soll ihr das im kommenden Jahr nicht ebenfalls glücken?

Zögern und Zaudern ist jetzt nicht angesagt. Gesine Schwan ist nicht zweite Wahl, sie spielt in der ersten Liga. Es gibt nicht mehr viele Intellektuelle ihrer Art, schon gar nicht in der Sozialdemokratischen Partei. Sollten Beck und Co. auch diese Angelegenheit in den Sand setzen – nach dem Hessen-Chaos, dem Links-Wirrwarr und dem Dalai-Lama-Eklat steht das fast zu befürchten – ist der Partei wirklich nicht mehr zu helfen. Dann sollte Horst Köhler zur Strafe wieder Präsident werden - auf Lebenszeit, Briefmarke inklusive.