Karl Nolle, MdL
Zeit - online, 27.06.2008
Sachsensumpf - Voreiliger Freispruch
Rotlichtvorwürfe gegen hohe Justizbeamte in Sachsen sorgen bundesweit für Schlagzeilen.
Rotlichtvorwürfe gegen hohe Justizbeamte in Sachsen sorgen bundesweit für Schlagzeilen. Die Staatsanwaltschaft hält sie für widerlegt. Im Fall eines Minderjährigenbordells scheint der Verdacht gegen zwei Richter aber keineswegs ausgeräumt.
Ende April hat die Dresdner Staatsanwaltschaft den sogenannten "Sachsensumpf" für nicht belegbar erklärt und damit auch die Akten im Fall "Jasmin" geschlossen. Zwei ranghohe Juristen, ein früherer Staatsanwalt und jetziger leitender Richter an einem sächsischen Amtsgericht und ein langjähriger führender Richter an einem Landgericht, sind seither – so scheint es – von einem üblen Verdacht befreit.
Die beiden sollen Ende 1992 und Anfang 1993 im Leipziger Minderjährigenbordell "Jasmin" verkehrt haben, sich dadurch erpressbar gemacht und in der Folge Verfahren beeinflusst haben. Vorwürfe, die der sächsische Verfassungsschutz 2006 bei der Beobachtung der Organisierten Kriminalität im Freistaat zusammentrug und die die Dresdner Staatsanwälte jetzt als reine Verschwörungstheorie widerlegt sehen. Aus Verdächtigen sind Opfer einer medialen Treibjagd geworden; beide Juristen fordern inzwischen Schadensersatz vom Land Sachsen.
Die Beweislage scheint eindeutig: Informanten des Verfassungsschutzes haben in Vernehmungen bestritten, dass sie die ihnen in den Geheimdienstakten zugeschriebenen Hinweise gaben. Der ehemalige Bordellbetreiber ist von seiner früheren Aussage abgerückt, er habe als Gegenleistung für eine milde Strafe nicht über die Freier des "Jasmin" ausgepackt. Sechs von acht Frauen, die damals in dem Bordell anschaffen mussten, konnten sich nicht an Besuche der beschuldigten Juristen erinnern.
Doch die Dresdner Staatsanwaltschaft hat weder so tiefgründig noch so fair ermittelt, wie sie es darstellt. Das legen Vernehmungsprotokolle, die Einstellungsverfügung nebst -begründung sowie Gespräche mit Zeugen und Anwälten nahe.
1. Die Staatsanwaltschaft Dresden nahm ihr Ermittlungsergebnis im Fall "Jasmin" bereits im September 2007 öffentlich vorweg, obwohl sie wichtige Zeuginnen noch gar nicht gehört hatte.
Ende Juni bis Anfang Juli 2007 hat die Staatsanwaltschaft das Verfassungsschutzdossier "Abseits III" über Leipzig zugestellt bekommen. In den Unterlagen wurden die angeblichen Rotlichtkontakte von Juristen, vor allem Verbindungen zum Bordell "Jasmin", beschrieben. In den folgenden Wochen befragten die Ermittler dazu unter anderen den Leipziger Kriminalhauptkommissar Georg Wehling, einen früheren Ermittler für Organisierte Kriminalität, den ehemaligen Bordellbetreiber Michael W. sowie die beiden prominenten Richter.
Ex-"Jasmin"-Chef Michael W. konnte oder wollte sich an keinen einzigen Kunden seines Bordells erinnern. Er wollte auch nichts mehr von einer Aussage wissen, die er bereits im Jahr 2000 gegenüber Mitarbeitern von Kommissar Wehling gemacht hatte. Der Ex-Zuhälter behauptete damals, bei dem Prozess gegen ihn sei zu seinen Gunsten gemauschelt worden. Das glimpfliche Urteil über vier Jahre Haft erklärte W. den Polizisten damit, "dass ich zu Freiern keine Aussage gemacht habe bzw. dass ich keine 'dreckige Wäsche' wasche. So war es auch vereinbart gewesen im Vorfeld der Gerichtsverhandlung."
Geleitet hatte den Prozess im Jahr 1994 Richter N., der in den umstrittenen Verfassungsschutzakten als "Jasmin"-Kunde auftaucht und - so die Vermutung - den Bordellbetreiber zum eigenen Schutz und anderer prominenter Freier milde behandelt haben soll.
Der seit seiner Pensionierung als Anwalt tätige N. wurde am 10. September 2007 zu den Vorwürfen vernommen, sein ebenfalls der Bordellgängerei bezichtigter Richterkollege R. bereits am 31. Juli. Beide wiesen die Vorwürfe zurück, vor allem N. hinterließ bei den Ermittlern einen "glänzenden Eindruck".
Drei Tage nach N.s Vernehmung brach der scheidende Chef der Dresdner Staatsanwaltschaft das bis dahin eiserne Schweigen seiner Behörde. Der Sächsischen Zeitung sagte er: "Aber je tiefer wir graben, desto mehr heiße Luft kommt heraus, die völlig unbescholtene Bürger verbrennt – darunter auch untadelige Mitarbeiter der Justiz."
Was der Fast-Ruheständler nicht erwähnte: Zu diesem Zeitpunkt war noch keine der acht Frauen, die im Alter zwischen 13 und 19 Jahren im "Jasmin" Freier befriedigen mussten, befragt worden. Es sollte noch bis Januar 2008 dauern, ehe die Ersten von ihnen vernommen wurden. Das mutet auch deshalb merkwürdig an, weil die Staatsanwaltschaft selbst den "Jasmin"-Komplex als einen der zwei zentralen von mehr als 30 "Sachsensumpf"-Verfahren bezeichnete.
2. Sara und Claudia (Namen geändert), zwei frühere "Jasmin"-Mädchen, haben auf Fotos die beiden Richter als Freier wiedererkannt. Die Staatsanwaltschaft hält ihre Aussagen für unglaubwürdig und begründet das mit zahlreichen Widersprüchen. Die meisten der genannten Umgereimtheiten sind jedoch entweder keine oder irrelevant.
Sara und Claudia sind inzwischen Frauen um die 30 und haben seit der Auflösung des "Jasmin" Ende Januar 1993 keinen Kontakt zueinander. Umso verblüffter waren die Staatsanwälte, als beide in ihrer ersten Befragung übereinstimmend auf Fotos Ex-Richter N. als ihren ehemaligen Freier "Ingo" identifizierten. Die Frauen erinnerten sich auch nach 15 Jahre noch daran, dass sie damals miteinander Streit bekamen, nachdem der Stammkunde von Claudia zu Sara gewechselt war.
Beide Frauen hielten auch bei einer Nachvernehmung an ihren Aussagen fest. Und das, obwohl die Ermittler ihnen vorhielten, dass keines der anderen sechs inzwischen befragten Ex-"Jasmin"-Mädchen N. als Freier erkannt hatte. In ihrer Einstellungsverfügung machen die Staatsanwälte dann eine einfache Rechnung auf, um die Angaben von Sara und Claudia als widerlegt einzustufen: Da auch Michael W. bestritt, dass N. in seinem Bordell verkehrt sei, kommen sie auf sieben Zeugen, die die beiden Belastungsaussagen nicht bestätigen können.
Doch lässt sich allein durch Zählen das Gewicht von Aussagen beurteilen?
Die Autoren dieses Beitrags haben mit fast allen Frauen, die im "Jasmin" zur Prostitution gezwungen wurden, gesprochen. Bis auf Sara und Claudia bestand wenig Bereitschaft, sich zu erinnern. Stattdessen war viel Angst zu spüren. Eine Zeugin, die später vor der Staatsanwaltschaft nichts zu sagen wusste, kündigte bereits damals an: "Ich werde mein Wissen wohl mit ins Grab nehmen. Die Leute, um die es geht, sitzen am Ende sowieso am längeren Hebel. Und ich habe keine Lust, irgendwann erschossen auf der Straße zu liegen."
Eine andere Frau, die unter ca. 30 Fotos N. als "Jasmin"-Freier ausmachte, antwortete auf die Frage der Autoren, ob sie sicher sei: "Es gibt Gesichter, die vergisst man nicht." Sie entsann sich, ihn um die Weihnachtszeit 1992 bei einer geschlossenen Runde gut situierter Kunden gesehen zu haben. Bei ihrer Vernehmung gab sie jedoch an, sich weder an Gesichter noch Umstände erinnern zu können.
Keine Staatsanwaltschaft kann Zeugen zwingen, offenherzig auszusagen. Aber es scheint schwer vorstellbar, dass den Ermittlern nicht auffiel, wie wenig – abgesehen von Sara und Claudia – die anderen Frauen zur Aufklärung beitragen wollten.
Doch die Ermittlungsbeamten stießen sich ausschließlich an den Widersprüchen, die sich bei den beiden Belastungszeuginnen offenbarten. In der Einstellungsverfügung lasten sie ihn jedes noch so belanglose Detail an und machen damit einen Grad von Widerspruchsfreiheit zum Maßstab, der 15 Jahre nach den fraglichen Vorgängen unverhältnismäßig wirkt. So konnte Sara nicht angeben, ob sie nur zwei oder mehr Wochen in dem Bordell festgehalten wurde, Claudia schätzte die Anzahl der Bordellbesuche von "Ingo" mal auf zehn, dann auf sechs.
Den zweiten Richter sehen die Ermittler unter anderem durch die Aussage seiner Lebensgefährtin entlastet. Sie gab zu Protokoll, dass das Paar erst Anfang 1993 nach Leipzig kam und in den ersten sechs Wochen jeden Abend zusammen verbracht habe. Da das "Jasmin" Ende Januar 1993 von der Polizei aufgelöst wurde, schloss sie deshalb aus, dass ihr Partner dort gewesen sein könnte. Sara und Claudia beharren jedoch darauf, dass ihnen der Mann mit dem "Stahlblick" (Sara) und den "markanten Augenbrauen" (Claudia) im Bordell aufgefallen sei.
3. Sara behauptete vor der Staatsanwaltschaft, dass sie Richter N. schon im Jahr 2000 als Freier identifiziert habe - bei einer Befragung durch die Leipziger Polizei. Doch die Akten von damals und die beteiligten Beamten sagen etwas anderes. Für die Ermittler ein massiver Widerspruch. Aber es gibt auch Indizien, die Saras Aussage stützen.
Sara war und ist sich sicher, dass sie Richter N. schon 2000 auf einem Foto als ihren Freier erkannt hatte. Doch die Staatsanwälte hielten ihr die alten Akten vor. Zwar decke sich ihre heutige Beschreibung des Kunden mit der Aussage vor acht Jahren, aber sie habe damals laut dem Vernehmungsprotokoll einen anderen Mann identifiziert. Sara gab den Ermittlern jedoch zu verstehen, dass die beiden Männer nicht zu verwechseln seien. Aber warum steht es dann anders in den Akten?
Die Staatsanwaltschaft hat dazu auch die Polizisten vernommen, die Sara im Jahr 2000 befragten. Die Beamten dementierten, dass sie damals Lichtbilder von Richter N. zeigten. Allerdings lassen zwei Indizien Saras Behauptung plausibel erscheinen.
Erstens: In dem umstrittenen Leipzig-Dossier des Verfassungsschutzes steht über die "Jasmin"-Freier: "Einige dieser Mädchen seien später - zwischen 1999 und 2000 - in einem anderen Zusammenhang auch durch Angehörige der Leipziger Polizeidirektion und/oder der Leipziger Staatsanwaltschaft vernommen worden und sollen zumindest eine Identifizierung von N. und ... vorgenommen haben."
Zweites Indiz: Ein Polizeibeamter, der 2000 an den Ermittlungen beteiligt war, schloss im Gespräch mit ZEIT ONLINE zwar aus, dass damals Lichtbilder von Richter N. gezeigt wurden. Er räumte aber ein: "Es kann sein, dass Zeitungsfotos der Person dabei waren." Der feine Unterschied: Lichtbildmappen müssen amtlich dokumentiert werden, anders als "zufällig" vorgelegte Zeitungsfotos. Ermittelten die Polizisten möglicherweise illegal oder verdeckt gegen N.? Gerieten sie unter Druck, weil der einflussreiche Richter Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie erhob? Denn die Beamten hatten zeitgleich ganz offiziell gegen ihn ermittelt wegen Rechtsbeugung zugunsten des Ex-"Jasmin"-Betreibers.
Die Staatsanwaltschaft musste an dieser Frage scheitern. Schon deshalb, weil kein Zeuge Saras Aussage bestätigen konnte oder mochte. Aber der vernehmende Ermittler machte auch kein Hehl daraus, dass er voreingenommen war. Laut Saras Anwalt hielt er ihr vor: "Wem wird man mehr glauben - zwei ehrenvollen Polizeibeamten oder einer Ex-Prostiuierten?"
4. Die Staatsanwaltschaft erweckt öffentlich den Eindruck, als hätten Journalisten die Aussagen von Sara und Claudia beeinflusst. Intern stellen die Ermittler etwas ganz anderes fest.
Auf der Abschlusspressekonferenz zum "Sachsensumpf" kritisierte der Sprecher der Staatsanwaltschaft, dass vor den Ermittlern bereits Journalisten den früheren "Jasmin"-Mädchen Fotos von möglichen Freiern vorgelegt hätten. In ihrer schriftlichen Einstellungsverfügung spekulieren die Staatsanwälte: "Es ist nicht auszuschließen, dass die Zeuginnen dadurch beeinflusst wurden."
Mit den Journalisten sind die beiden Autoren dieses Beitrags gemeint. Tatsächlich haben sie lange vor der Staatsanwaltschaft mehrere Frauen, die ehemals im "Jasmin" anschaffen mussten, gesucht und gefunden. Was die Autoren dabei erfuhren, weicht von der Schlussfolgerung der Ermittler erheblich ab. So erzählte Sara im Juli 2007, ohne dass ihr die Journalisten auch nur ein Foto gezeigt hatten, sichtlich aufgeregt, was sie 1994 beim Prozess gegen den "Jasmin"-Betreiber vollends verwirrt habe: Nicht nur, dass der Angeklagte Michael W., anders als angekündigt, bei ihrer Zeugenaussage im Gerichtssaal saß. Von der Richterbank habe sie auch ein früherer Stammkunde aus dem Minderjährigenbordell angelächelt.
Der von Sara und Claudia als "Jasmin"-Freier belastete Ex-Richter N. zeigte nicht nur die beiden Frauen an. Er stellte zusätzlich noch einen Strafantrag, falls die Ermittlungen ergeben sollten, dass andere die beiden Frauen zu den Aussagen gegen ihn bewegt hätten. Doch die Staatsanwaltschaft, die öffentlich beide Frauen als Opfer übereifriger Journalisten darstellte, wehrte intern ab. Am 14. März 2008 schrieb der Chef der Dresdner Staatsanwaltschaft dem sächsischen Generalstaatsanwalt: "Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Zeuginnen durch dritte Personen zu ihren Aussagen bestimmt worden sind, bestehen derzeit (noch) nicht."
Sara und Claudia lassen sich von der Anzeige durch Ex-Richter N. nicht beeindrucken. Sie bleiben dabei, dass sie das gesagt haben, woran sie sich erinnern konnten. Claudia freut sich auf ihr zweites Kind, Sara hat gerade eine schwere Operation hinter sich. Wenn sie wieder bei Kräften ist, will sie mit ihrem Anwalt rechtliche Schritte gegen N. prüfen, den sie noch immer für ihren Freier "Ingo" hält.
Von Thomas Datt und Arndt Ginzel
[http://www.zeit.de/online/2008/27/sachsensumpf-jasmin]