Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 28.06.2008
Parteiensystem Das letzte Gefecht der Volksparteien
Ein Kommentar von Heribert Prantl
Mit der Verwandlung des Vierparteienlandes in ein Fünfparteienland findet zugleich die strukturelle Krise der bisherigen Volksparteien ihren Höhepunkt. Noch fühlt sich die CDU neben der SPD zwar vergleichsweise stark, doch ist sie allenfalls halbstark.
Der Bundestag geht in die Sommerpause und man wünschte sich, die Parteien erlebten in dieser Zeit das, was man früher die Sommerfrische nannte; sie hätten diese Frische nötig. Nach der Sommerpause beginnt nämlich eine Zeit, wie sie die Bundesrepublik noch nicht erlebt hat: Die bayerischen Landtagswahlen im September werden der Auftakt sein für einen außergewöhnlichen Wahlkampf.
Wenn die SPD nicht wieder auf die Beine kommt, wird es ein Jahr lang ein denkwürdiges Duell geben zwischen der glänzend opportunistischen Karrierekanzlerin Angela Merkel und dem glänzend narzisstischen Populisten Oskar Lafontaine. Das wäre dann wohl das Finale des bisherigen Parteiensystems mit CDU und SPD als den deutschen Großparteien.
Das Jahr 2009 ist ein Jahr mit 14 Wahlen - einer Europawahl, vier Landtagswahlen, Kommunalwahlen in acht Bundesländern, dann der Bundestagswahl. Aber nicht diese Vielzahl ist das Spektakuläre; spektakulär ist die Bedeutung dieser Wahlen: Es handelt sich für SPD und CDU, für die ehemals großen Volksparteien, um das letzte Gefecht in dieser Rolle. Beide Parteien waren Volksparteien, und sie sind es immer weniger. Nach dem kommenden Wahljahr wird feststehen, ob sie es überhaupt noch sind.
Es ist ja nicht einfach so, dass sich die politische Landschaft verändert, indem zu den bisherigen vier Parteien mit der Linkspartei eine neue hinzutritt. Mit dieser Verwandlung des Vierparteienlandes in ein Fünfparteienland findet zugleich die strukturelle Krise der bisherigen Volksparteien ihren Höhepunkt.
Die alten Bindungskräfte dieser Parteien haben stark nachgelassen, sie sind den Menschen nicht mehr, wie früher, eine politische Heimat, sondern eine Art Hotel: die Leute kommen und gehen - und bleiben immer öfter ganz weg. Sie finden dort nicht mehr, was sie jahrzehntelang gefunden haben: Grundorientierung. Das liegt nicht nur, aber auch an diesen Parteien.
Wie viel Volk braucht eine Volkspartei? Wenn 73 Prozent der deutschen Wahlbevölkerung die Verhältnisse in Deutschland als ungerecht betrachten und zugleich eine große Mehrheit glaubt, dass es ihr in zehn Jahren nicht besser, sondern schlechter gehen wird, dann ist das eine gewaltige Misstrauenskundgebung gegen die Volksparteien. Sie stehen auf ausgelaugtem Boden. Geäst und Blattwerk sehen noch ganz gut aus, derweil die Wurzeln ihren Halt verlieren.
Das Suppenkasper-Schicksal
Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung geben eine Vorahnung von den Spaltungslinien der Gesellschaft: die Ungleichheit verschärft sich; die beispiellose Zunahme an Gleichheit, die Deutschland wie alle westlichen Länder im interkulturellen Vergleich seit dem 19. Jahrhundert erlebt hat, ist gestoppt; die soziale Dynamik der fünfziger Jahre, als in der Nachkriegsgesellschaft Millionen Menschen bei null anfangen mussten, hat sich längst erschöpft; die Bildungsoffensive der siebziger Jahre, als die Kinder kleiner Handwerker und strebsamer Facharbeiter zu Hunderttausenden auf der Strickleiter, die ihnen das BAföG geknüpft hatte, nach oben kletterten, gibt es nicht mehr. Das sagen auch alle Pisa-Studien. Das Projekt sozialer Aufstieg ist beendet.
Chancen für alle, Wohlstand für alle: Es waren dies die strahlenden Großunternehmungen der beiden Volksparteien. Neue Großprojekte der Befriedung, der Integration und der politischen Leidenschaft haben sie bisher nicht bieten können; die Desintegration nach Hartz IV hält an. Die große Koalition von Union und SPD hat zwar so schlecht gar nicht gearbeitet, aber das Gros der Wähler hat sie als eine Klein-Klein-Koalition erlebt, die ihren Ehrgeiz darin gesetzt hat, das ihr eigentlich Mögliche unmöglich zu machen.
Seitdem die Volksparteien das Projekt der Egalisierung der Gesellschaft nach oben beendet haben, beginnt die Egalisierung der Volksparteien nach unten. Der liberale Kalauer, dass sich SPD und FDP "der 20 Prozent-Grenze annähern, aber von verschiedenen Seiten", verliert den Irrwitz und gewinnt Realität - nicht nur für die FDP, sondern auch für die Grünen und die Linken.
Aus einem Parteiensystem mit zwei großen und sonst eher kleinen Parteien entwickelt sich ein System der mittelgroßen Parteien. Noch schaut die CDU in einer Mischung aus Mitleid und Hochmut auf das Suppenkasper-Schicksal ihres Koalitionspartners SPD und fühlt sich daneben vergleichsweise stark, täuscht sich aber darin. Sie ist allenfalls halbstark.
14 Wahlen, 14 Nothelfer
Auf die Umfragen, wonach die Union heute nicht einmal mehr das dürftige Wahlergebnis von 2005 halten könnte, reagiert sie wie Palmström in Morgensterns Galgenliedern. Der wurde von einem Auto überfahren und beschloss, das für einen bösen Traum zu halten: Weil, so schloss er "messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf". Die inhaltlichen Spannungen in der Union sind objektiv größer als die in der SPD. Die Kanzlerin steht zwischen Marktradikalismus und christlicher Soziallehre, sie hat freilich das Glück, dass sie nur mit der Kluft zwischen Koch und Rüttgers und nicht, wie die SPD, mit einer abgespaltenen Partei zu kämpfen hat.
Die politische Zukunft der bisherigen Großparteien wird erstens davon abhängen, ob ihnen ein glaubwürdiger Kurs gelingt, der Anschluss an die gesellschaftspolitischen Grundstimmungen findet. Zweitens muss sich zeigen, ob sich CDU oder SPD besser im neuen Fünfparteiensystem zurechtfinden. Bisher ist es die CDU. Sie hat sich in Hamburg erstmals auf eine schwarz-grüne Koalition eingelassen.
Die SPD muss in für sie überwiegend bitteren Konstellationen entscheiden, wie sie es mit den Linken hält. In Hessen hatte sie sich zwar schnell entschieden, war aber dann subjektiv unfähig, diese Entscheidung zu realisieren, weil die Abgeordnete Metzger mit ihrem Gewissen den Willen der anderen 41 Abgeordneten beherrschen konnte. In Thüringen sieht es so aus, als ob die Linke nach der Landtagswahl im Frühjahr 2009 die stärkste Fraktion stellen wird; es gibt dort gar Spekulationen über eine schwarz-linke Koalition. Im Saarland wird die Linke mit Lafontaine stärker werden als die SPD. Und dann? Auch die SPD möchte es halten wie Palmström. Politik machen kann man aber so nicht.
Die Situation der Grünen und der FDP ist komfortabel; am komfortabelsten ist vorerst die der Linken. Auf ihre Mühlen geht ein erheblicher Teil des gesellschaftlichen Gesamtverdrusses, ohne dass diese Partei sich das erarbeitet hätte. Die Linke weiß, dass sie ein Programm bräuchte, sie weiß aber auch, dass die Arbeit daran die Partei in die Luft sprengen könnte. Also lässt sie es - und erntet trotzdem. Die Linke kassiert, was sie ansonsten bei Spekulanten ablehnt: leistungsloses Einkommen. Das wird nicht ewig so bleiben, aber derzeit ist es so.
14 Wahlen im Jahr 2009. Die Noch-Volksparteien werden 14 Nothelfer brauchen. Nach christlicher Überlieferung sind die 14 Nothelfer zu Diensten bei Sprachschwierigkeiten, Leibschmerzen und Todesangst. Derzeit hat die CDU zu ihnen die besseren Beziehungen.