Karl Nolle, MdL
DER SPIEGEL 29/2008, Seite 28, 13.07.2008
Häuserkampf an der Saar
Um jeden Preis will Oskar Lafontaine im Saarland die erste rot-rote Regierung im Westen durchsetzen - unter seiner Führung. Ein Sieg würde die SPD demütigen und womöglich auch in Berlin die Verhältnisse ins Rutschen bringen.
Groß und golden glänzt die "220" auf der roten Pappkladde, die Winfried Jung in der Hand hält. Der Betriebsratsvorsitzende der Saarbahn war 28 Jahre lang Sozialdemokrat, aber damit ist an diesem Tage Schluss.
Es ist der Donnerstag vor zwei Wochen, und Jung steht in Saarbrücken in der Zentrale der Linken. Dichtgedrängt lauern sie dort, Überläufer wie er, Genossen, Journalisten. Schließlich ist es so weit, die Kladde wechselt den Besitzer. Feierlich drückt Jung die gebündelten Mitgliedsanträge von 220 Busfahrern Oskar Lafontaine in die Hand. "Das ist wie Weihnachten", entfährt es dem Chef der Linken. Er grinst selbstzufrieden und hält das rote Büchlein wie einen Skalp in die Kameras.
Es ist wieder ein Tag, an dem Partystimmung bei der Linken herrscht. Bei zwölf Prozent im Bund liegt die Partei in den Umfragen, sie wird am Ende entscheiden, ob die SPD ihre Kandidatin für das Bundespräsidentenamt durchsetzen kann, selbst der Einzug in den schwärzesten aller deutschen Landtage, den bayerischen, ist nicht mehr ausgeschlossen. Es scheint, als könne diese Partei derzeit kaum etwas aufhalten, keine Stasi-Diskussion, kein Flügelkampf und nicht der Umstand, dass sie über kein Programm verfügt.
Der Aufstieg der Linken ist vor allem die Geschichte des politischen Wiederkehrers Oskar Lafontaine, 64. Dessen neue Macht lässt sich nirgendwo so gut beobachten wie im Saarland. Dort ist Die Linke seine Kreation, und dort bastelt er an einem Modell, das ihm auch für die große Berliner Bühne vorschwebt: Die Partei braucht kein Programm, das Programm heißt Lafontaine. Beim Personenkult haben sich deutsche Linke meist nur ungern von anderen übertreffen lassen.
Anfang August will sich der linke Potentat ausgiebig von seinen Genossen feiern lassen. Geht es nach ihm - und wann geht es schon nicht nach ihm? -, soll ihn der Landesparteitag dann zum Spitzenkandidaten für die saarländische Landtagswahl 2009 ausrufen.
Mit aller Macht will Lafontaine in seiner Heimat das erste rot-rote Bündnis im Westen etablieren, mit ihm als Ministerpräsidenten. Anfangs erschienen diese Planspiele noch als reine Provokation, doch seitdem eine Forsa-Umfrage im März für die Linken 29 Prozent ermittelte und für die SPD nur 16, scheint nichts mehr unmöglich zu sein. Lafontaine selbst rechnet derzeit mit 20 Prozent plus x und sieht seinen Saar-Verein - noch - 5 bis 6 Punkte hinter den Sozialdemokraten.
Doch Lafontaine wäre nicht Lafontaine, wenn er nicht alles daransetzen würde, dieses Verhältnis umzukehren und mit der neuen Truppe vor seiner Ex-Partei durchs Ziel zu gehen. Er will im äußersten Westen der Republik ein Fanal setzen, das auch in Berlin die Verhältnisse ins Rutschen bringen soll.
Und so wird der Wahlkampf an der Saar ein Testfall für die Verführbarkeit von Wählern. Kann eine Partei auch im Westen auf Dauer erfolgreich sein, die hemmungslos allen alles verspricht, deren Vorschläge den Staat über 150 Milliarden Euro kosten würden? Die in ihren Reihen linksextreme Gruppen duldet, in Teilen einen Systemwechsel propagiert und noch immer im Bund und in sechs Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet wird? Und deren prominente Bundestagsabgeordnete Dagmar Enkelmann im Fernsehen bekennt: "Diese Art von Demokratie löst einen Großteil von Problemen nicht"?
Es ist kein Zufall, dass dieser Test ausgerechnet im Saarland stattfindet. Der kleinste deutsche Flächenstaat mit gut einer Million Einwohnern ist hochverschuldet und lebt seit Jahrzehnten schon von der Großzügigkeit der wohlhabenderen Länder. 10,4 Prozent der Saarländer sind auf Hartz IV angewiesen. Ein geeigneteres Umfeld kann es für Populisten wie Lafontaine im Westen kaum geben.
Immer wieder lässt er Termine in Berlin ausfallen, um in der Heimat über die Dörfer zu ziehen. Wie ein Landesvater überreicht er in Altenheimen Blumen und erzählt von seiner Mutter, der Kriegerwitwe. Wie ein Arbeiterführer steht er morgens um sechs am Werkstor bei den Bergbaukumpeln und klopft Schultern. Abends dann genießt er die angenehmeren Seiten des Parteiarbeiterlebens und becirct bei teurem Wein potentielle Mitstreiter.
Wann immer es eine Gelegenheit gibt, die SPD zu demütigen, greift er beherzt zu. Für das große ARD-Sommerinterview im August hat er die Saarschleife als Kulisse bestimmt. Dort präsentierte er sich vor elf Jahren in gespielter Harmonie mit Gerhard Schröder. Jetzt will er das Bild allein bestimmen. Für ihn steht der politische Gegner nicht rechts, auch nicht in der Mitte, der Feind ist ein Sozialdemokrat.
"Los jetzt", zischt er seinen Genossen zu, kaum dass die letzte Rede zum 1. Mai vor dem Staatstheater in Saarbrücken verklungen ist. Sofort stürzt sich Lafontaine mit seinem Tross auf die Bergarbeiter vor der Bühne. Jedem einzelnen gibt er die Hand und blickt ihm tief in die Augen. "Glück auf", sagt er mit Tremolo in der Stimme. Achtmal wiederholt er den Bergarbeiter-Gruß. Er lässt sich Zeit, und er lässt den Fotografen Zeit.
Nur wenige Meter hinter ihm steht Heiko Maas, der SPD-Landeschef. Auch er will Hände schütteln, weiß aber nicht so recht, wie. Maas will nicht wirken wie die Kopie Lafontaines, wie die Nachhut des Ex-Ministerpräsidenten. Am Ende bleibt er stehen, erstarrt, hilflos, fast verlegen. Lafontaine, sein einstiger politischer Ziehvater, geht grußlos an ihm vorbei. Das ist Teil seiner Inszenierung. Alle sollen sehen, wie man es richtig macht. Vor allem Maas.
Lafontaine hat seiner linken Truppe einen Häuserkampf verordnet. Systematisch lässt er potentiell Unzufriedene abtelefonieren, SPD-Mitglieder, die irgendwann einmal von sozialdemokratischen Funktionären übergangen wurden oder mit der Berliner Politik hadern.
Die Linke ist im Saarland noch nicht einmal ein Jahr alt, doch mit 2500 Mitgliedern schon die drittgrößte Partei des Landes. Gemessen an der Einwohnerzahl hat Lafontaine den stärksten Landesverband im Westen um sich geschart. Die SPD dagegen hat innerhalb eines Jahres mehr als 1900 Mitglieder an der Saar verloren.
Das Saarland ist Lafontaines Heimat. Hier war er lange Jahre Oberbürgermeister und später Ministerpräsident. Hier kennt er viele, die ihm Karriere oder Einfluss verdanken - und sich jetzt durch ihn beides wieder erhoffen. Nirgendwo verschwimmen die Grenzen zwischen Sozialdemokraten und Linken so sehr wie an der Saar.
Wie Lafontaines Kaderarbeit funktioniert, zeigt das Beispiel Jürgen Trenz in Friedrichsthal. In der 11 000-Einwohner-Gemeinde nördlich von Saarbrücken ist Trenz ein Mann mit besten Kontakten. Er war Präsident eines Fußballvereins, SPD-Stadtrat, Mitglied im Kreistag und verantwortet das Stadt-Marketing. Das macht ihn für Lafontaine zum idealen Verbündeten.
Der Linken-Chef habe ihn "bei einem guten Essen und einem guten Glas Wein"
überzeugt, in Friedrichsthal als Bürgermeister der Linken zu kandidieren, bestätigt Trenz. Lafontaine organisierte 12 000 Euro für den Wahlkampf und trat auch selbst auf. Trenz holte aus dem Stand fast 19 Prozent. So rücken die Linken schrittweise vor im Kampf mit der SPD.
"Bei vielen hat Lafontaine hier den Status eines Gurus", erklärt Karlheinz Blessing, einst Bundesgeschäftsführer der SPD, jetzt Arbeitsdirektor in einem saarländischen Stahlwerk. Blessing hat die Wandlungen Lafontaines über Jahrzehnte hinweg beobachtet. "Er war ja mal der Dandy der Wirtschaft", sagt er. Methodisch ist sich Lafontaine aber auch als Arbeiterführer treu geblieben: "Ein bisschen Volkstribun, ein bisschen Populismus, ein bisschen Weltökonom - nach allen Seiten offen."
Lafontaine fordert mehr Rente, mehr Arbeitslosengeld, höhere Steuern für Gutverdienende, mehr Öffentlichen Dienst, kurzum: eine Rückkehr in die Bundesrepublik der siebziger Jahre. Er wettert auf den Marktplätzen gegen "die da oben", als wäre er immer noch unten. Er ist der Villenbewohner in der Rolle des Robin Hood.
Auf konkrete Fragen antwortet er global und weltpolitisch, auf große Fragen wiederum ganz klein. Es ist sein Trick, sich den realen Fragen zu entziehen. Er macht es wie seine Partei. Sie ist gegen jede Kürzung von Sozialleistungen und gleichzeitig gegen hohe Staatsverschuldung, sie ist gegen Arbeitsplatzabbau im Tagebau und gleichzeitig gegen CO2-Ausstoß. Viele Saarländer scheint das nicht zu kümmern. Den Rest der Republik nennen sie bis heute gern "das Reich", Lafontaine beschert ihnen wieder nationale Aufmerksamkeit. "So was funktioniert hier", sagt Blessing.
SPD-Landeschef Maas führt dagegen einen fast aussichtslosen Zwei-Fronten-Kampf, eingeklemmt zwischen der absoluten Mehrheit des CDU-Ministerpräsidenten Peter Müller und seinem einstigen Übervater. Der heute 41-Jährige war Vorsitzender der Jusos im Saarland, als er 1995 zum ersten Mal orakelte: "Es gibt eine Zeit nach Lafontaine." Nach Lafontaine ist vor Lafontaine, das erfährt Maas dieser Tage.
Wenn die SPD einen Infostand aufbaut und für den Mindestlohn wirbt, lässt Lafontaine daneben ein Plakat der Linken hängen. "Erst die Menschen in Armut treiben und dann von Mindestlohn schwätzen", höhnt Lafontaine darauf in Richtung SPD. "So nicht, Alter", soll Maas gezürnt haben. Aber was soll er machen? Der Mann ist sein Trauma.
Maas hat sich zur Gegenwehr einen Sozialdemokraten an die Seite geholt, der so links ist, dass er auch von Lafontaine heftig umworben wird: Ottmar Schreiner, 62, soll als Arbeitergewissen der SPD und exponierter Agenda-Kritiker wankelmütige SPD-Wähler im Saarland binden.
Dabei gehört Schreiner zu den Freunden rot-roter Koalitionen. "Wir dürfen den Fehler aus Hessen im Saarland nicht wiederholen", sagt er. Am Ende bleibe für die "SPD das Dilemma, sich zwischen Großer Koalition und Lafontaine entscheiden zu müssen". Einer, der Lafontaine stoppen will, redet anders.
So zieht Lafontaine unbeirrt weiter, hat seine Saar-Partei konsequent mit Spezis durchsetzt. Seine Gattin Christa Müller ist familienpolitische Sprecherin, Landesgeschäftsführerin wurde Pia Döring, die 25 Jahre lang SPD-Mitglied war. Den früheren saarländischen Ver.di-Chef Rolf Linsler machte er zum Landesvorsitzenden. Für Linsler hat sich der Seitenwechsel nach 35 Jahren als Sozialdemokrat schon jetzt gelohnt. Er sei bei der SPD einfach nicht zum Zuge gekommen, windet sich der pensionierte Feinmechaniker.
Linsler ging einst als Arbeiterführer gegen den Ministerpräsidenten Lafontaine auf die Straße, weil der Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich sowie Sonntagsarbeit gefordert hatte. 20 Jahre später geißelt Lafontaine Zumutungen für Arbeiter als neoliberal, und sein neuer Parteifreund Linsler erzählt nur Nettigkeiten über den ehemaligen Gegner. "Wir werden denen zeigen, was ein Wahlkampf ist. Wir haben ja nur 52 Städte und Gemeinden. Da stehen wir auf jedem Marktplatz", prophezeit er und tupft sich die Petersilie vom Schnauzer - vor sich einen Berg Froschschenkel.
In der Berliner Parteizentrale beobachtet man Lafontaines neue Vasallen mit gemischten Gefühlen. Denn auch hier wissen sie, dass Lafontaine sich die gesamte Partei so wie an der Saar wünscht, handverlesen und unterwürfig. "Wir haben die SED doch nicht hinter uns gebracht", meint ein führender Ostgenosse, "um die Einheitspartei mit Lafontaine wiederzubekommen." MARKUS DEGGERICH, SIMONE KAISER