Karl Nolle, MdL
spiegel-online, 07.09.2008
Last Man Standing
Kommentar von Claus Christian Malzahn
Frank-Walter Steinmeier als Kanzlerkandidat, Kurt Beck tritt als Parteichef ab, Müntefering kehrt zurück: Mit den Entscheidungen von Schwielowsee beweist die SPD Handlungsfähigkeit. Jetzt hat die Partei die Chance, Lafontaine links liegen zu lassen.
Die Entscheidung kam früher als erwartet - überraschend ist sie nicht. Mit Kurt Beck als Kanzlerkandidat konnte seit dem politischen Chaos in Hessen niemand mehr ernsthaft rechnen. Der Pfälzer, der jetzt folgerichtig auch von seinem Amt als SPD-Chef zurücktritt, hat die Partei nie geführt.
Ein Identitätsproblem hatte die SPD in der Großen Koalition nach den Hartz IV-Reformen und dem kometenhaften Aufstieg der Linken sowieso. Kurt Beck und seine hessische Sirene Andrea Ypsilanti haben der 140-jährigen Partei auch noch ein Glaubwürdigkeitsproblem beschert. Frank-Walter Steinmeier soll die Partei nun aus dem Keller holen.
Die Nominierung des einstigen Kanzleramtschefs von Gerhard Schröder wird Erleichterung hervorrufen - Begeisterung freilich nicht. Steinmeier ist ein effektiver Politiker, dessen außenpolitische Vorstellungen im Wesentlichen auf die Architektur der Entspannungspolitik der achtziger Jahre gründen.
Hier liegen die Ursachen für den politischen Dissens zu Angela Merkel, die eben jene Entspannungspolitik auf der anderen Seite in der DDR erlebt hat. Die unterschiedlichen Auffassungen, wie Konflikte zu lösen und zu moderieren sind - ob es sich um Russlands Großmachtsstreben oder den Empfang des Dalai Lama handelt - werden nun viel offener zu Tage treten. Man wird noch mehr um Auftritte und Bilder rangeln als bisher. Die Konkurrenz zwischen Kanzlerin und Vizekanzler wird das letzte Jahr der Großen Koalition dominieren - soviel steht heute fest.
Steinmeier ist kein Charismatiker, seine Karriere und die Umstände seiner Ernennung zum Kanzlerkandidaten erinnern auf den ersten Blick gar an den eiligen Aufstieg Klaus Kinkels in der FDP, der an die Spitze der Liberalen gesetzt wurde, weil sonst niemand da war, dem man den Job zutraute. Auch Kinkel kam aus dem Apparat und musste wie Steinmeier erst lernen, was "Partei" eigentlich bedeutet. Kinkel verwaltete Genschers Erbe nach dessen Rückzug - so wie Steinmeier nun Schröders Erbe verwalten wird. Dennoch gibt es, trotz der Personalnot, in der sich die Sozialdemokratie befindet, gewaltige Unterschiede.
Denn Kinkel blieb eine Übergangsfigur, bis Westerwelle dann das Ruder übernahm. Auch in den Büros von Wowereit, Gabriel und Nahles wird man heute wohl schon den einen oder anderen Wechsel auf die Zukunft ausstellen. Steinmeier aber tritt nicht als Repräsentant einer Zwischenphase an, er repräsentiert vielmehr den "Last Man Standing" der SPD vor dem historischen Abgrund. Auch die Genossen, die die SPD mit einem Kanzlerkandidaten Beck strategisch gern weiter nach links verschoben hätten, müssen das berücksichtigen.
Kurt Beck ist ab heute politische Geschichte. Es gab glücklichere Vorsitzende der SPD, aber ob Beck nun der historische Tiefpunkt war, wie gern behauptet wird, muss sich erst noch erweisen. Die Fragen jedenfalls, mit denen man Steinmeier innerhalb und außerhalb der SPD ab heute massiv behelligen wird, werden jedenfalls die gleichen sein wie die bis dato an Beck: In welchem Bündnis will die SPD 2009 in Berlin regieren? Auch Steinmeier wird nicht allmächtig sein, das Drama von Wiesbaden nimmt wohl weiter seinen Lauf. Dass Steinmeier schon heute - und nicht erst Ende des Jahres - seinen Hut in den Ring geworfen hat, macht ihn einerseits zum energischen Aktivisten. Auf der anderen Seite wird er damit zum politischen Kugelfang - eine Rolle, die bisher Beck vorbehalten war.
Ob Steinmeier Lafontaines Linke zurück drängen kann, ist eher fraglich. Aber das hat Becks Schlingerkurs, den er offenbar mit dem Konzept Wandel durch Annäherung verwechselt hat, auch nicht vermocht. Seitdem sich die SED im Februar 1990 in PDS umbenannte, rätseln Politologen, Politiker und Soziologen, wie man diese Partei am wirkungsvollsten bekämpfen oder überflüssig machen könne. Mal galt Ausgrenzung als probates Mittel, mal "Entlarven durch Einbindung".
Die Wahrheit ist: Das Auftauchen einer postkommunistischen, linkspopulistischen Partei in Deutschland ist so wenig rückgängig zu machen, wie man Zahnpasta zurück in die Tube pressen kann. Entscheidend ist: Lafontaines Linke von heute ist nicht regierungsfähig - und ein Kandidat Steinmeier wird das glaubwürdiger und ernsthafter vertreten können als Beck, der bei diesem Thema komplett die Initiative verloren hat. Steinmeiers Kandidatur ist ein Signal, dass auch die nächste Bundesregierung in der politischen Mitte gebildet werden soll.
Insofern hat die SPD ab heute wieder Grund zur Zuversicht, denn an einer Kooperation mit Lafontaine würde sie politisch und psychisch zerbrechen. Ein Wahlsieg von Angela Merkel gegen einen Kandidaten namens Kurt Beck wäre zudem als ausgemachte Sache gehandelt worden. Frank-Walter Steinmeier, wie alle Außenminister im Volk beliebt, bringt die SPD immerhin zurück ins Spiel. Vielleicht gelingt es ihm, nicht nur mit dem Rücken zur Wand rot-rot-grüne Planspiele abzuwehren - sondern neue Räume im der Mitte wie eine Ampel zu öffnen. So einfach wie in Hessen dürfen es sich die Liberalen in Berlin nicht mehr machen.
Steinmeiers wichtigste Aufgabe aber wird es sein, der deutschen Sozialdemokratie ihren Mut und ihre verlorene Würde wiederzugeben. Wie das gelingen kann, hat Franz Müntefering - womöglich Nachfolger seines Nachfolgers Beck als Parteivorsitzender - vergangene Woche bei einem Wahlkampfauftritt in München demonstriert. Da gebe es die "rechten Konservativen, also CDU/CSU", die wollten, dass alles so bleibe, wie es nun eben sei - "und sie hoffen auf die Dividende im Himmel". Und dann gebe es die "linken Konservativen, die PDS/ML", die würden "den Himmel auf Erden versprechen". Sozialdemokraten aber wüssten, dass der Fortschritt eine Schnecke sei: "Wir kämpfen um jeden Meter".
An solchen prägnanten kurzen Sätzen, die Beck nie eingefallen sind, hängt heute das Schicksal der SPD.