Karl Nolle, MdL

DNN/LVZ, 22.10.2008

„Weg ohne Karte und Kompass“

CDU-Landesverbände ringen um Werte und Strategien aus der Krise / Kritik an Kanzlerin Merkel
 
Berlin. Als Dame ohne Unterleib entwickelt sich die CDU – und das ausgerechnet mit der populärsten Politikfrau Angela Merkel an der Spitze. Von B wie Brandenburg (neue Vorsitzende mit Johanna Wanka), alte Animositäten, bis T wie Thüringen (vom CDU-Regierungschef scheint der Lack ab), von Bayern bis Nordrhein-Westfalen wird um Werte, eine programmatische Anpassung der Union an die laufende Debatte über die richtigen Wege aus der (Finanzmarkt-)Krise gerungen. Handfest bedroht sind bisherige Regierungspositionen von Hessen bis zum Saarland. Mit Franz Müntefering habe die SPD „den gefährlichsten denkbaren Wahlkämpfer“ aufgeboten, schwant es denen, die bei der CDU eifrig an der Strategie der nächsten Zeit arbeiten.

CDU-Vize Jürgen Rüttgers, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bezeichnete Merkels bisherigen Reformweg – verbunden mit dem Leipziger Parteitag von 2003 – als Irrtum. Sachsens CDU-Generalsekretär Michael Kretschmer verlangt nach der knallharten Gegenposition. „Leipzig pur ist die Schlussfolgerung für die CDU“, sagte er gegenüber dieser Zeitung. 2003 hätten die Leute gewusst, wo die Union hin wolle. Mit der großen Koalition, den damit verbundenen Kompromissen und der akuten Finanzmarktkrise ist erkennbar geworden, dass die Union eine gewisse Zeit ihren „Weg ohne Karte und Kompass“ bestimmt habe.

Solche „Zeitgeist-Schleifen“ seien gelegentlich notwendig, um der kompletten Verunsicherung der Bürger vorzubeugen. „Aber jetzt ist es an der Zeit, dass die CDU wieder Karte und Kompass in die Hand nimmt.“ Der Leipziger Reformparteitag sei „einer der besten in der Unions-Geschichte gewesen, weil die Menschen da gespürt haben, dass wir eine Vorstellung von unserem Weg in die Zukunft haben, der schwierig aber alternativlos ist“. Die „Wiederbelebung dieses Reform-Aufschwungs“ sollte, so Kretschmer, das Zeichen der CDU für deren bevorstehenden Parteitag Anfang Dezember in Stuttgart sein.

„Wir müssen weg von einer neoliberalen Vorstellung hin zu einer echten sozialen Marktwirtschaft“, verlangt dagegen Rüttgers. Das erinnert an die Stimmung, die zum berühmten Ahlener Programm der CDU von 1947 geführt hat. Dieses Manifest sah unter anderem die Verstaatlichung der Schwerindustrie vor. Mit Bezug auf Ahlen sagt Rüttgers heute: „Wir sind inzwischen weiter.“ Angesichts der neuen Debatte um die Banken-Teilverstaatlichung wirkt das wie eine Neuauflage des Untergangskalauers, den Wanderer an der Abbruchkante gern zitieren: Gestern sei man gut vorangekommen und heute geht es einen Schritt weiter.

Mehr Staatsaufsicht ohne eine höhere Staatsquote, so fasst Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger das zusammen, was er sich vom Stuttgarter Programmanlauf der CDU erwartet. Dort steht, neben der Kernaussage von CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla, dass „Kernenergie für die CDU Ökoenergie“ sei und der eckigen Annäherung der Union an ihre Ost-Zeit auch ein großer Leitantrag zur Abstimmung: „Die Mitte stärken“. Wie darin die neue Staats-Nähe eingearbeitet wird, ist noch offen.

Ohne Umschweife, aber sicherheitshalber anonym, hat sich jetzt nur ein stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender plaudernd aus den Büschen genähert. „Gute Leute holen gute Leute ran, schlechte Leute schlechte“, sagt der Mann. Er verweist dabei unter anderem auf Helmut Kohl und dessen Mut zu großen, auch unbequemen Personen an seiner Seite. „Angela Merkel ist nur groß in der Verhinderung großer Leute an ihrer Seite.“ Er befürchtet deshalb für das Wahljahr 2009 eine „ganz schwierige Mobilisierungsphase für das eigene Lager“ auf die CDU zurollen – die Schuldige ist bereits ausgemacht.
Dieter Wonka