Karl Nolle, MdL
Frankfurter Rundschau online, 03.11.2008
Hessen-SPD: Wut und Tränen
"Wer so etwas macht, hat keinen Platz mehr in der SPD."
Wiesbaden. Am Montagvormittag kurz vor zehn Uhr klingelte im Vorzimmer der hessischen SPD-Vorsitzenden Andrea Ypsilanti das Telefon. Carmen Everts war dran, Abgeordnete aus Groß-Gerau, die Ypsilanti eine Entscheidung mit weit reichenden Konsequenzen verkünden wollte - das Ausscheren der vier Abgeordneten. Als Ypsilanti kurz darauf zurückrief, erfuhr sie: Es ist aus.
Die mit Spannung erwartete Sondersitzung des Landtags am Dienstag - hinfällig. Die Aussichten auf eine rot-grün-rote Mehrheit - vorbei. Die Chancen auf eine Regierungsbeteiligung der SPD - gleich null. Die SPD-Prognosen für eine Neuwahl - trübe.
Ypsilantis Bitte, doch noch ein Gespräch zu führen, lehnt Everts ab. Sie und ihre Mitstreiter seien entschlossen.
Im Landtag weiß zu dieser Stunde noch niemand etwas. Die meisten Abgeordneten erfahren die Nachricht erst, als sie um halb elf im Hessischen Rundfunk und über die Agenturen läuft. Viele auf den Fluren von SPD und Grünen sind fassungslos. Mitarbeitern stehen Tränen in den Augen.
"Gegen menschliche Fairness"
Als sich die vier Abweichler in einem Hotel erklärt haben, tritt im Landtag SPD-Generalsekretär Norbert Schmitt vor die Mikrofone. Auch er ist sichtlich angeschlagen. Er nennt die drei Abgeordneten, die sich erst jetzt zum Ausscheren entschieden haben, "unglaubwürdig".
Es folgen schwere Geschosse. Sie hätten "gegen die Grundprinzipien der SPD verstoßen", außerdem "gegen das Prinzip der menschlichen Fairness" und schließlich "gegen die Demokratie". Schmitt: "Hier soll das Wahlergebnis umgedeutet werden."
Während der Generalsekretär in der Sondersitzung des geschäftsführenden Landesvorstands verschwindet, in der Jürgen Walter nicht erscheint, schwirren Reaktionen von der entsetzten SPD-Basis herein. Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer (AfA), Horst Raupp, will den Parteiausschluss der vier Genossen beantragen.
Im Darmstädter Unterbezirk, wo Dagmar Metzger zu Hause ist, sagt der SPD-Geschäftsführer Jensen Fleckenstein: "Wer so etwas macht, hat keinen Platz mehr in der SPD." Aus dem konservativen SPD-Unterbezirk Main-Kinzig kommt die Aufforderung an die vier, ihre Mandate niederzulegen.
Empörung löst vor allem der Zeitpunkt der Entscheidung aus. In vier Regionalkonferenzen hat Ypsilanti das Bündnis mit der Linken diskutiert. Überall sprach sich eine deutliche Mehrheit dafür aus, die Abwahl von CDU-Ministerpräsident Roland Koch ganz obenan zu stellen. Zwei Parteitage haben den Weg geebnet, zuletzt am Samstag in Fulda mit mehr als 95 Prozent. Und jetzt ließen die Abgeordneten "uns so ins Messer laufen", sagt ein Sozialdemokrat.
Wie es weitergehen soll mit der hessischen SPD, das weiß Montagabend niemand zu sagen - weder die Abtrünnigen noch der Rest der Partei. Ein Rücktritt von Andrea Ypsilanti wird eher nicht erwartet. Zwar ist sie, um mit Ex-SPD-Chef Kurt Beck zu sprechen, "zum zweiten Mal mit dem gleichen Kopf gegen die gleiche Wand gelaufen". Aber Ypsilanti hat sich seit dem erfolgreichen Wahlkampf gegen Koch ein enormes Standing in ihrer Partei erworben.
Auch die Parteirechten um Jürgen Walter hatten seit dem Juni mit ihr verabredet, eine Machtperspektive zur Not auch mit Hilfe der Linken zu entwickeln. Damit ist es nun vorbei.
VON PITT VON BEBENBURG