Karl Nolle, MdL

Martin Dulig, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, 29.11.2008

Was wir waren, wer wir sind - Zum Umgang mit der eigenen Geschichte ....

"Ich wünsche mir einen ehrlichen und offenen Umgang, der das eigene Fehlverhalten und auch den persönlichen Mut unvoreingenommen zum Thema macht".
 
Die DDR war eine Diktatur, ein Unrechtsstaat, der auf ganzer Linie – politisch, ökonomisch und moralisch – gescheitert ist. Nur eine kleine Handvoll ewig Gestriger bestreitet das ernsthaft. Wir, die in der DDR geboren und aufgewachsen sind, mussten in diesem Staat leben. Jeder von uns stand täglich vor der Frage: Wie weit gehe ich? Mache ich mit, oder verweigere ich mich? Bleibe ich stumm, oder mache ich den Mund auf? Niemand, der nicht in der DDR gelebt hat, kann sich ein realistisches Bild davon machen, wie schwer es war, diese Fragen immer wieder beantworten zu müssen. Von dieser inneren Zerrissenheit sind fast alle ostdeutschen Biografien geprägt – außer von jenen, die in der DDR zu 100 Prozent ihr sozialistisches Vaterland sahen.

Dass 1989/90 die DDR und der ganz Ostblock wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, ahnte wohl niemand – weder Honecker noch Kohl, weder der Stasi-Offizier noch der Dissident. Wir alle haben uns in der DDR eingerichtet, mussten uns einrichten. Die einen sind mit wehenden Fahnen den Machthabern hinterhergelaufen, andere suchten den Weg des geringsten Widerstandes und wenige stellten sich der Diktatur offen entgegen. Es gab viel Grau in der DDR, nur sehr selten Schwarz oder Weiß. Viele Lebenswege waren legitim, oder zumindest verständlich.

„Die“ ostdeutsche Biografie gab es nicht. Unsere Lebenswege waren so unterschiedlich, wie die Menschen überall auf der Welt unterschiedlich sind. Da wir aber alle unter den gleichen Bedingungen lebten, ist Verhalten durchaus vergleichbar. Natürlich ist es ein himmelweiter Unterschied, ob ich den Anwerbungsversuchen der Stasi widerstand, oder ob ich beflissen meine Freunde bespitzelte. Ob ich Mitglied des ZK der SED war, oder ob ich aus Opportunität in „die Partei“ ging, um die nächste Beförderung nicht zu verbauen. Es ist ein Unterschied, ob ich mich zu drei Jahren NVA verpflichtete, um den begehrten Studienplatz zu bekommen, oder ob ich Bausoldat wurde oder den Dienst an der Waffe sogar total verweigerte.

Die Konsequenzen aus unangepasstem Verhalten habe ich zu Hause in meiner Familie deutlich erlebt: Als Kind kirchlicher Angestellter haben wir in materieller Hinsicht nicht auf der Sonnenseite des real existierenden Sozialismus gelebt. Meine drei großen Brüder – allesamt gute und sehr gute Schüler – durften kein Abitur machen, weil sie nicht in der FDJ waren. Mich erwartete das gleiche Schicksal. Einer meiner Brüder wurde im Herbst 1989 „zugeführt“ und ins „Gelbe Elend“ gebracht. Obwohl ich damals erst 15 Jahre alt war, haben mich diese Erlebnisse sehr geprägt und mein politisches Engagement für Freiheit und Demokratie maßgeblich gefördert.

Viele haben sich mit den Verhältnisse in der Diktatur arrangiert. Viele sind mitgelaufen, der eine schneller und weiter, der andere eher zögerlich und nur über kurze Distanz. Mitläufer ist also nicht gleich Mitläufer. Auch hier gab es große Unterschiede, die differenziert zu bewerten sind. Die Blockparteien in der DDR – und zwar alle – waren mit Sicherheit ganze Sammelbecken von Mitläufern. Diese Parteien waren Teil des Systems, sie stützten und trugen es. Ihnen beizutreten, war nicht besonders rühmlich und schon gar nicht heldenhaft. Gleichwohl war es auch nicht per se verwerflich. Auch hier lohnt der genaue Blick: War ich nur ein einfaches Mitglied, das den ständigen Werbungsversuchen der SED ein Ende machen wollte? War ich vielleicht Mitarbeiter der Union-Druckerei, der somit den Weg in die Ost-CDU fand? Ober habe ich als Mitglied einer Blockpartei Karriere gemacht und politische Verantwortung im DDR-Regime übernommen?

Wie auch immer: Nötig ist die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Das gilt für ehemalige SED-Mitglieder ebenso, wie für sogenannte Blockflöten und auch ehemals Parteilose. Ganz besonders gilt das für alle, die in unserer Demokratie politisch und gesellschaftlich Verantwortung übernehmen möchten. Gerade wir müssen mit offenem Visier vor die Menschen treten, ohne schönzureden, ohne zu relativieren oder gar zu vertuschen. Für uns Politiker gelten strengere Regeln als für andere, denn an uns werden auch strengere Ansprüche gestellt. Zu Recht.

Ich wünsche mir einen ehrlichen und offenen Umgang, der das eigene Fehlverhalten und auch den persönlichen Mut unvoreingenommen zum Thema macht. Wichtig ist, dabei immer die eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen. Die ganze DDR-Bevölkerung für die eigene Biografie zu vereinnahmen – ja, geradezu in Geiselhaft für das eigene Fehlverhalten zu nehmen – ist unredlich und dient nur den Tätern. Auch der Verweis auf andere, die noch schmutzigere Finger und noch größere Flecken auf der weißen Weste haben, sind mehr als unangebracht. Das macht Vergangenheitsaufarbeitung unmöglich.

Und noch etwas ist mir besonders wichtig: Egal, wie wir uns bis zum Herbst 1989 verhalten haben, es darf nicht aus dem Blick geraten, was wir seitdem gemacht haben. Ich billige jedem zu, lernfähig zu sein und sich zu ändern. So mancher kleine Täter oder Mitläufer von damals, hat sich um den Aufbau unseres Landes und unserer Demokratie große Dienste erworben. Auch das ist Teil einer Lebensleistung, die anerkannt und gewürdigt werden muss. Inzwischen sind 20 Jahre vergangen. Ich denke, dass es an der Zeit ist, über die Sinnhaftigkeit so mancher Scheuklappen nachzudenken, nichts zu verklären, sondern der individuellen Wahrheit realistisch ins Auge zu blicken.