Karl Nolle, MdL
Süddeutsche Zeitung, 02.02.2009
SPD: Innere Opposition-Ein bisschen Aufstand in der Luft
Unmut in der Baden-Württemberger SPD: Die innerparteiliche Opposition kämpft vor der Bundestagswahl gegen Franz Müntefering und für soziale Gerechtigkeit.
02.02.2009 11:30 Uhr Drucken | Versenden | Kontakt
Rund 140 Sozialdemokraten aus Baden-Württemberg waren in den "Kleinen Kursaal" nach Stuttgart gekommen - Bundes- und Landtagsabgeordnete, Mitglieder des Bundes- und Landesvorstandes, Kreis- und Ortsvorsitzende sowie Oberbürgermeister und Bürgermeister. Die Resonanz war größer als von den Einladenden, der Landes-Vizechefin Hilde Mattheis und dem Freudenstädter Kreisvorsitzenden Gerhard Gaiser, erwartet worden war.
Vielleicht weil es um die Finanz- und Wirtschaftskrise ging - und um eine Abrechnung mit den Spitzen der selbst seit langem kriselnden SPD. "In der Luft liegt sozialdemokratische Politik-Erwartung", erklärte der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, der fast in Hessen unter Andrea Ypsilanti Wirtschaftsminister geworden wäre - in der Wählergunst liege die SPD aber nur bei 22 Prozent. Scheer fragte: "Wer macht da etwas falsch?"
Den oppositionellen Sozialdemokraten ist die Politik ihrer Bundespartei zu unsozial und zu unternehmerfreundlich - und parteiinterne Entscheidungsprozesse empfinden sie teilweise als undemokratisch. Spitzenpolitiker würden zu Medienstars aufgebaut, kritisierte Hermann Scheer. Es werde somit der Eindruck erweckt, dass das Schicksal der Partei von ihnen abhänge.
Scheer wandte sich gegen diese "Privatisierung der Partei": Die Spitzenpolitiker seien von der Partei abhängig, nicht umgekehrt. "Auch der Schröder", so der Sozi, "wäre ohne die SPD nie Kanzler geworden."
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Conradi nannte ein Beispiel für die Demokratie-Defizite in der Partei: Obwohl der Landesparteitag Baden-Württembergs gegen die Bahn-Privatisierung gestimmt habe, hätten seinerzeit nur vier Bundestagsabgeordnete aus dem Land ebenfalls dagegen gestimmt. Es gelte Druck zu machen, wenn Funktionsträger in der Partei gegen den Willen der Basis handeln: "Die müssen um ihre Ämter fürchten."
Die stellvertretende Landes-Vorsitzende Hilde Mattheis, die auch im Bundesvorstand der SPD sitzt, attackierte: "Die Partei scheint heute zum Selbstzweck geworden zu sein." Sie forderte eine Besinnung auf Willy Brandts Zielvorstellung: "Mehr Demokratie - auch in unserer Partei."
"Die Gerechtigkeitsfrage wird die nächste Bundestagswahl entscheiden", betonte Hilde Mattheis.
Nun will die innerparteiliche Opposition aus dem Musterländle auf das nächste Bundestags-Wahlprogramm der Partei Einfluss nehmen. Vertrauen könne nur zurückgewonnen werden, wenn auch Fehler eingestanden würden, sagte Mattheis. Und ein Fehler sei beispielsweise die Hartz-IV-Gesetzgebung gewesen. "Von 347 Euro Regelsatz kann keiner würdevoll leben. Und von 211 Euro kann ich kein Kind ordentlich ernähren. [...] Hartz IV in diesem Ausmaß hat sich für die Menschen verheerend ausgewirkt."
Die Bundestagsabgeordnete verwies auf den Armuts- und Reichtumsbericht vom Sommer 2008, der sich vorwiegend mit der Zeit befasse, in der SPD und Grüne an der Bundesregierung gewesen seien: "Die Schere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinandergegangen."
Die Regierungspolitik der vergangenen Jahre sei auf Chancengleichheit ausgerichtet gewesen, sagte Hilde Mattheis. Viele Kinder könnten ihre Chancen aber gar nicht nutzen, weil ihren Eltern das Geld dazu fehle. Folglich müsse es wieder um Verteilungsgerechtigkeit und um "Wohlstand für alle" gehen: "Wir brauchen beispielsweise eine stärkere Beteiligung der reichen Erben."
Mit vier Milliarden Euro an Erbschaftssteuern dürfe man sich nicht zufrieden geben, sagte Hilde Mattheis. Und: "Wir brauchen ordentliche Beschäftigung, die ordentlich bezahlt wird."
Die Unzufriedenheit über die SPD-Politik auf Bundesebene war auch von der Basis zu hören. Eine Sozialdemokratin meldete sich zu Wort und sagte, es tue ihr in der Seele weh, wenn jetzt von FDP-Seite höhere "Hartz IV"-Sätze verlangt würden: "Eine sozialdemokratische Forderung muss es sein, dass ab morgen Kinder in Ganztagseinrichtungen kostenlos mit warmem Mittagessen versorgt werden. Wie auch immer wir das hinkriegen - das muss unsere politische Forderung sein."
Die Zusammenkunft in Stuttgart sollte dazu dienen, die Diskussion verschiedener Themen in den Orts- und Kreis-Verbänden anzustoßen, um auf die Bundestagswahl hin positioniert zu sein. In Impulsreferaten ging es beispielsweise um die Gleichstellung von Mann und Frau, um mehr Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen und um die Deutsche Bahn.
Der Ex-Bundestagsabgeordnete Conradi warb für seinen Antrag an die Bundes-SPD, die Bahn-Privatisierung zu verhindern. Der Bund müsse Eigentümer bleiben und durchsetzen, dass die Bahn-Gewinne in heimische Züge und Bahnhöfe investiert werden und nicht in ausländische Bahn-Gesellschaften. Conradi: "Dann hätten wir ein Konjunkturprogramm erster Güte."
SPD-Querdenker Scheer stellte sein Konzept einer Energiewende vor, mit dem drei Krisen bekämpft werden könnten: die Finanzkrise, die Klima- und Umwelt-Krise sowie die Ressourcen-Krise. Die Förderung von erneuerbarer Energie und von Altbau-Sanierungen habe schon in den vergangenen Jahren für mehrere hunderttausend neue Arbeitsplätze gesorgt.
Werde diese Politik verstärkt, so wirke das gegen die drohende Arbeitslosigkeit. Vor allem im Bereich der Altbau-Sanierungen könne der Staat durch die positiven Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung mit mehr Einnahmen rechnen, als er an Fördermitteln ausgebe.
Wenn der Anteil erneuerbarer Energie wie im Jahr 2007 (Gesamtanteil: 18 Prozent) weiterhin um drei Prozent pro Jahr wachse, sei in 27 Jahren die Vollversorgung mit erneuerbarer Energie möglich, sagte Hermann Scheer. Werde weiterhin auf begrenzte Rohstoffe wie das Öl gesetzt, dann "droht dieser Welt die finale Krise" - und das noch in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts.
Die Kriege auf der arabischen Halbinsel ließen erahnen, zu welch’ "barbarischen Gemetzeln" es kommen werde. Aus der Versammlung heraus wurden SPD-Politiker kritisiert, die den Bau neuer Kohlekraftwerke befürworten.
Der Ulmer Professor Dirk Solte und Professor Friedhelm Hengsbach, ein bekannter Sozialethiker, sprachen über die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise und über mögliche Auswege. Professor Solte erklärte, es gebe in Form von Lebensversicherungen, Krediten, Fonds-Anteilen und anderen verbrieften Geldansprüchen die 53,5-fache Menge des realen Geldes in Form von Geld-Gutscheinen. Dieses System könne nicht ewig funktionieren. Allein 2007 habe die Neuverschuldung das Siebenfache dessen betragen, was gespart worden sei. Folglich würden alle Konjunkturprogramme, die auf Pump finanziert seien, das Kernproblem der Weltfinanzkrise vergrößern.
Statt einer globalen "Konkurrenz der Regeln" forderte Solte eine weltweite "Regelung der Konkurrenz". Er schlägt vor, öko-soziale Vorschriften bei der Welt-Handels-Organisation (WTO) zu verankern. Und es müssten beispielsweise Steuern auf Finanzprodukte erhoben werden. Angesichts dieses globalen Ansatzes wollte ein Zuhörer wissen, was ein SPD-Ortsverband an der Basis gegen die Krise unternehmen könne? Regional empfehle er Selbsthilfe-Gruppen und den Tauschhandel, sagte Dirk Solte.
Hengsbach kritisierte politische Entscheidungen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes, wodurch prekäre Arbeitsverhältnisse entstanden seien. Er diagnostizierte eine "extreme Ungleichheit von Einkommen und Vermögen". Und das sei "der Grund für die explosionsartige Entwicklung der Vermögensmärkte" gewesen. Jene seien im Gegensatz zu den Gütermärkten nicht von realen Werten geprägt, sondern von Erwartungen in die Zukunft. So basiere die Bewertung einer Aktiengesellschaft nicht auf "den realen Werten, die im Unternehmen geschaffen werden", sondern auf den subjektiven Einschätzungen der Spekulanten. Daraus resultiere eine "kurzatmige Orientierung" des Managements "ausschließlich an den Interessen der Anteilseigner".
Ausgerechnet kleine Betriebe, die reale Werte schaffen würden, seien aufgrund der Finanzkrise in der Gefahr, keine bezahlbaren Kredite mehr zu bekommen, sagte Udo Lutz, der Landesvorsitzende der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Die Wertschöpfungskette müsse abgesichert werden.
Und für Lutz steht fest: "Die Kapitalbesitzer müssen sich an den Kosten für Konjunkturprogramme beteiligen. Das Thema Vermögenssteuer ist wichtiger denn je."
Die Initiativgruppe aus der Landes-SPD Baden-Württembergs will die innerparteiliche Oppositionsarbeit mit weiteren Veranstaltungen fortsetzen. Ein bisschen Aufstand ist in der Luft.
Von A. Ellinger