Karl Nolle, MdL
spiegel.online, 08.04.2009
Freispruch für das Prekariat!
Die Elite hat den Groll des Prekariats vollauf verdient.
Bei politischen Themen schalten sie ab, sie verachten die Medien, werden zur Gefahr für die Demokratie - so stellt der Politologe Franz Walter die unteren Einkommensschichten dar. Zu Unrecht, hält Gabor Steingart dagegen und kommentiert: Die Elite hat den Groll des Prekariats vollauf verdient.
Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 ließ der Schriftstellerverband der DDR in der Stalinallee Flugblätter verteilen. Auf denen war zu lesen, das Volk habe das Vertrauen der Regierung verloren: "Nur durch verdoppelte Arbeit lässt es sich zurückgewinnen." Der Spötter Bertolt Brecht widersprach: "Wäre es da nicht doch einfacher", fragte er augenzwinkernd, "die Regierung löste das Volk auf."
An diese Episode erinnert, wenn auch unfreiwillig, der Politikwissenschaftler Franz Walter, der am Dienstag an dieser Stelle über die Verbitterung der kleinen Leute schrieb. Der Unterschied: Brecht nahm das Volk in Schutz, Walter giftet es an. Den "Zugehörigen der niedriger angesiedelten Milieus", so der Professor aus Göttingen, fehle die Fähigkeit unsere heutige Welt zu begreifen. Deshalb sei sie politikverdrossen. Aus der Brechtschen Ironie ist Walterscher Ernst geworden.
Das einfache Volk sehne sich nach einem Bundeskanzler vom Typus Günther Jauch, schreibt er. Auf die "Vermehrung von Komplexität" in der modernen Welt reagiere es mit Politikerverachtung. Politiker und Medienmenschen gelten ihm "als ein miteinander verbandelter Haufen".
All dieses hat der Professor sich natürlich nicht ausgedacht, sondern in einer "Prekariatsstudie" herausgefunden. Das Ergebnis dieser Erkundungsreisen soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Walter ist ein Ehrenmann und kein Scharlatan. Aber vielleicht hat er die Grammatik des gemeinen Volkes nicht richtig gedeutet. Solche Verständigungsschwierigkeiten zwischen unten und oben soll es ja geben.
Was wäre davon zu halten, wenn das Prekariat recht hätte und der Professor irrte? Wenn die Abwendung von der Politik nicht vom Nicht-Verstehen, sondern vom Durchschauen verursacht wäre? Wenn das Zuviel an Nähe von Journalist und Politiker nicht in der Einbildung, sondern in der Wirklichkeit existierte? Wenn es der deutschen Demokratie tatsächlich an der Fähigkeit ermangelte, Probleme nicht nur zu benennen, sondern sie auch zu lösen? Das Auseinanderklaffen von Wort und Tat wird im Hartz-IV-Milieu naturgemäß eher bemerkt als in der wohltemperierten Welt des Bundesangestelltentarifs.
Man schreibt nicht mehr übereinander, sondern miteinander
Beginnen wir also mit uns selbst, mit den Medien: Man muss nicht im Hartz-IV-Milieu leben, um den neuzeitlichen Flirt von Politikern und Berichterstattern zumindest merkwürdig zu finden. Renommierte Journalisten renommierter Zeitungen, namentlich von "Tagesspiegel", "Zeit" und "Süddeutscher Zeitung" treten zu Beginn des Wahljahres als Co-Autoren der Parteigrößen Frank-Walter Steinmeier, Renate Künast und Franz Müntefering in Erscheinung.
Man schreibt Bücher nicht mehr übereinander, sondern miteinander. Man begründet finanzielle Zugewinngemeinschaften mit dem Berichtsgegenstand. Das Wort "Unabhängigkeit" verliert dadurch seine ursprüngliche Bedeutung.
Auch in der Benutzung von Sprache sind Annährungen zu beobachten, die weder der Sprache noch dem Leser guttun. Das Wort Volkspartei beispielsweise wird gebraucht, obwohl jeder weiß, dass SPD und CDU damit nicht mehr gemeint sein können. Dafür fehlen in ihren Reihen die Jungen, die Frauen, die Arbeiter und die Unternehmer.
Der Parlamentarier wird in unseren Artikeln gemeinhin als Volksvertreter bezeichnet, obwohl jeder zweite sein Mandat der Parteiliste verdankt. Das Volk aber weiß, wen es gerade abgewählt hat (Andrea Ypsilanti zum Beispiel: minus 50 Prozent der Stimmen in ihrem Wahlkreis) und wer dennoch fröhlich im Landtag sitzt (Ypsilanti zum Beispiel in der dritten Reihe).
Im September ist Wahltag, steht in unseren Zeitungen, obwohl es eher Lotterietag heißen müsste. Der Wähler steckt sein Los in die Trommel und die Parteien ziehen sich eine Koalitionsregierung heraus. Man wäre versucht zu sagen, der Bürger wählt die Katze im Sack. Aber selbst das stimmt nicht. Bei der Katze im Sacke weiß man wenigstens, dass im Sack eine Katze steckt. Nach der Bundestagswahl aber kann aus dem Sack ein Außenminister Westerwelle klettern - oder ein Vizekanzler Lafontaine.
Jede Belanglosigkeit kommt nun mit der Federboa in den Saal
Reden wir also über die Parteien, denen das Prekariat nichts zutraut. Die Unterschiede zwischen SPD und CDU sind nicht komplex, wie der Forscher suggeriert, sie sind kaum existent. Was für ein Unterschied zur Politik der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre, als Politik noch tatsächlich Richtungsentscheidung bedeutete.
Westbindung kontra Neutralität, Wiederbewaffnung oder ein Land ohne Armee, Entspannungspolitik oder verschärfter Kalter Krieg? So klang es, als um die richtige Richtung gerungen wurde.
Nicht dass unsere Zeit nicht genug Fragen von historischer Tragweite aufwerfen würde: Die Weltwirtschaftskrise ist ein einziges Fragezeichen. Über die Zukunft der Marktwirtschaft und die Rolle des Staates ließe sich trefflich streiten. Doch die inhaltlich ermatteten und personell erschöpften Parteien sind zu einer deftigen Auseinandersetzung gar nicht in der Lage. In Berlin hat sich vielmehr eine rhetorische Regierungsform eingeschlichen. Man beklagt seitens der Parteien die Undurchlässigkeit des Bildungssystems - und lässt die Bildungsbarrieren unangetastet. Man stellt fest, dass die Ausländerintegration nicht wie gedacht funktioniert - und veranstaltet eine Islamkonferenz. Man geißelt die Staatsverschuldung - und steigert sie. Man verspricht eine Reform der Gesundheitsversorgung - und setzt die Beiträge herauf.
Der Professor weiß das, der gemeine Bürger aber spürt es auch noch. Wenn nicht alles täuscht, dann wünscht sich das einfache Volk weder Hitler noch Jauch im Bundeskanzleramt. Es wäre mit einem zweiten Helmut Schmidt vollauf zufrieden. Von 20 Büchern auf der aktuellen Spiegel-Sachbücher-Bestsellerliste ist eines dem Glück gewidmet, eines der Liebe, zwei der Kindererziehung und drei befassen sich mit Helmut Schmidt. Das ehrt den 90-Jährigen und muss die Nachgewachsenen vom Scheitel bis zur Sohle beschämen.
Der heraufziehende Wahlkampf soll die gedankliche Leere auf der Berliner Bühne vergessen machen. Der kleine Unterschied hat in den kommenden Monaten wieder seinen großen Auftritt. Die Kanzlerin schminkt sich grell. Die SPD trägt wieder rot. Alle Unterschiede werden herausgeputzt, echte und unechte, erledigte und erfundene, jede Belanglosigkeit kommt nun mit Federboa in den Saal stolziert.
Eine Zappelliese, nicht mal ein zweiter Kohl
Aber wer ist eigentlich der Naive in diesem Spiel: Das Prekariat, das von den PR-Strategen nicht mehr erreicht werden kann? Oder die Intelligenz, die ihre Wünsche und Hoffnungen erneut in dieselben Protagonisten hineinphantasiert, wissend, dass diese auch beim nächsten Mal nicht liefern werden. Angela Merkel ist nun einmal eine politische Zappelliese und kein zweiter Adenauer, nicht einmal ein zweiter Kohl. Steinmeier ist mit Brandt und Schmidt nur entfernt verwandt. Ein Apfelbaum trägt nicht auf einmal Apfelsinen.
Wer genau hinschaut, der erkennt, dass beide Spitzenkandidaten in Wahrheit die gleiche politische Welt bewohnen. Sie ist, im Vergleich zur Welt ihrer Vorfahren, eine Welt im Kleinstformat.
Der Philosoph Karl Popper kann am besten erklären, wie diese politische Schrumpfwelt aussieht. Er hat, in der Absicht, uns das Verstehen leicht zu machen, die Wirklichkeit in drei Welten eingeteilt.
Welt Nummer eins ist die materielle Welt des Seins. Sie wird bewohnt von Autos, Kühlschränken und Computern.
Welt Nummer zwei ist die Welt unserer Erlebnisse und Gefühle. In dieser Welt wird geweint und gelacht.
Welt Nummer drei ist die Welt des Geistes, in der Theaterstücke geschrieben, Brücken geplant, Computer erfunden, aber eben auch gesellschaftliche Probleme verstanden und im Geiste gelöst werden. Es ist das Reich des Möglichen.
Vereinfacht kann man sagen: Das Flugzeug gehört zur Welt eins, das Fliegen findet in Welt zwei statt, aber die Erfindung des Flugzeugs haben wir dem Nachdenken in Welt drei zu verdanken.
Alle drei Welten sind miteinander verbunden. Poppers Philosophie handelt von der ständigen Rückkopplung zwischen ihnen. Ohne die Erfindung des Flugzeuges könnten wir nicht fliegen. Ohne Flugzeugabsturz gäbe es kein Nachdenken über ein neues, besseres Fluggerät. Erst durch das ständige hin- und her zwischen den Welten entsteht Fortschritt. Popper spricht von "Erkundungsfahrten auf der Suche nach einer besseren Welt".
In der politischen Wirklichkeit aber wurden die Verbindungsstücke zwischen den Welten vor einiger Zeit schon gekappt. Vor allem Welt drei wird von der deutschen Politik nicht mehr bewohnt. Man hat sich - wie früher die Menschen in einem zugigen, ausgekühlten Altbau - in die unteren beiden Stockwerke zurückgezogen. Dort kauern Steinmeier und Merkel in einer politischen Zweckgemeinschaft, die sich Große Koalition nennt.
Man regiert vor sich hin, man erregt sich über dieses und jenes, aber das obere Stockwerk, Welt drei, wirkt wie ausgestorben. Die Suche nach der besseren Welt ist praktisch eingestellt. Das kraftvollste Lebenszeichen der vergangenen vier Jahre verbindet sich mit dem Wort "Abwrackprämie".
Merkels Programm für die kommenden Monate heißt Dran-Bleiben, Steinmeiers Dran-Kommen. Wer von den beiden mehr erwartet ist selber Schuld. Vielleicht macht sich das Prekariat einfach nur weniger Illusionen als der Professor, der es untersucht hat.
Kurt Tucholsky würde an dieser Stelle heftig nicken: "Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig", hat er einst gesagt. Bei Franz Walter ist es wahrscheinlich umgekehrt.
von Gabor Steingart