Karl Nolle, MdL

der Freitag, 12.04.2009

Freitags Debatte: "Zeit für ein neues Projekt“

Die gute Gesellschaft – Parteivize Andrea Nahles stellt im Freitag erstmals das gemeinsame Strategiepapier von Linken in SPD und Labour vor.
 
SPD-Parteivize Andrea Nahles über die Chancen für eine andere Ordnung: Frau Nahles, soll die „gute Gesellschaft“ die neue Agenda 2010 der SPD werden?

Nein, es geht uns um eine Debatte. Zehn Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier und dessen Idee von einem Dritten Weg ist es höchste Zeit, ein neues Projekt zu formulieren. "Die gute Gesellschaft. Das Projekt der demokratischen Linken"

Und dazu brauchen Sie Hilfe aus Großbritannien?

Beide Parteien – SPD und Labour – haben in den vergangenen Jahren ähnliche Erfahrungen gemacht. Beide haben zum Beispiel vergleichbare Verluste in der Kernwählerschaft. Die SPD muss sich mit der Linkspartei auseinandersetzen, Labour mit den Liberal Democrats. Es gibt viele ähnlich Analysen über den Zustand der Partei und die Ursachen dafür. Das war ein guter Ausgangspunkt. Jetzt geht es uns um den Blick nach vorn.

Aber die „Gute Gesellschaft“ liest sich wie ein linkes Gegenmodell zur Agenda 2010.

Mit der ständigen Debatte um die Agenda – übrigens sowohl von den Befürwortern als auch den Gegnern – haben wir es geschafft, jede intellektuelle Regung in der SPD abzuwürgen. Die offene Debatte über neue politische Ideen war kaum möglich, weil immer wieder das Zentimetermaß hervorgeholt wurde, um nachzumessen, wie weit man sich mit einem Vorschlag von der Agenda entferne oder die Agenda bestätige. Wenn wir jetzt über politische Konsequenzen aus der Wirtschaftskrise reden, dürfen wir uns nicht weiterhin selbst fesseln. Das wollen wir mit diesem Papier erreichen.

Warum gerade jetzt?

Weil wir jetzt – in der schwersten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren – an einer Zeitenwende stehen. Wir wollen mit unseren Thesen ja an das Schröder-Blair-Papier durchaus anknüpfen. Schröder und Blair haben zweifellos ihre Verdienste. Der Bildungspolitik wurde beispielsweise der Rang eingeräumt, den sie haben muss, wenn wir unsere eigene Zukunft nicht versäumen wollen. Aber es kann nicht sein, dass die SPD oder Labour ihren Kompass an der Vergangenheit ausrichtet.

Ist das Schröder-Blair-Papier auch Vergangenheit?

ANZEIGE
Gerhard Schröder und Tony Blair haben auf die neoliberale Hegemonie eine intelligente Antwort gegeben, aber damit ist es nicht gelungen, diese Hegemonie zurückzudrängen. Mit dem Scheitern des Neoliberalismus haben wir jetzt eine neue Lage. Wenn wir jetzt „mehr Demokratie wagen“, können neue Akteure und Bündnisse einen sozialen Wandel einleiten, der das Denken des Neoliberalismus überwindet. Denn die Hoffnungen, die mit der Globalisierung und Individualisierung verbunden waren, haben sich ja nur teilweise erfüllt: Die Wohlstandsgewinne und gewachsenen individuellen Freiheiten haben die Fragen nach Gerechtigkeit und Teilhabe längst nicht vollständig beantwortet.

Schön und gut. Aber was folgt daraus?

Wir glauben, dass es Zeit ist für einen neuen Anfang. In der Politik ist eine Wiederbelebung der Demokratie nötig und auch ein neuer Stil. Die Leute wollen keinen Spin, sondern Sinn. Es geht nicht um dekretierte Entscheidungen, sondern um Debatte. Es geht um eine neue Form von Gesellschaft, um eine neue Wirtschaftsordnung. Es darf keinen Ort geben, der nicht demokratischen Prinzipien folgt. Weder in der Politik noch in der Gesellschaft noch in den Unternehmen. Wenn man diesen Anspruch ernst nimmt, dann hat man einen radikalen Ansatz. Das müssen wir von unten nach oben organisieren. Dazu braucht man einen breiten Konsens, und der ist nur durch eine breite Debatte herzustellen. Das ist eine ambitionierte Aufgabe, die vor uns liegt.

Da wünschen wir viel Spaß bei der SPD-internen Debatte.

Es geht nicht nur um eine SPD-interne Debatte, sondern auch um andere gesellschaftspolitische Akteure, wie etwa die Gewerkschaften. Oder Wertkonservative, die jetzt auch das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft neu bestimmen wollen. Oder Grüne, die nach der Krise Wege zu ökologischem Wachstum suchen. Oder den bürgerrechtlichen Teil der FDP, der Freiheitsrechte und bürgerliche Demokratie nicht mit gnadenloser Marktkonkurrenz verwechselt. Der Kernbegriff für die gute Gesellschaft ist der Bürger als demokratischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteur. Das bürgerliche Lager sind wir – weil wir nämlich alle Bürger meinen und nicht nur einige wenige.

Sie wollen ein bisschen mehr Demokratie, eine gute Gesellschaft? Bekommen Sie damit die Kräfte, die der Neoliberalismus in den vergangenen Jahren entfesselt hat, in den Griff? Man könnte fast meinen, Sie sind zur Kuschel-Linken geworden.

Es geht nicht um kuscheln. Eine neue Ordnung wird jedoch nur Realität, wenn sie auf einem neuen breiten Konsens fußt. Ohne diese gesellschaftliche Übereinkunft können wir bestehende Strukturen nicht aufbrechen und die sind nun mal marktfixiert. Wir erleben mit der Wirtschaftskrise gerade einen Wendepunkt weg von der neoliberalen Ideologie. Wir brauchen neue Leitideen. Der Markt ist kein Wert an sich. Er ist nur ein Instrument. Um ihn zu kontrollieren, brauchen wir neue, demokratisch legitimierte Institutionen, etwa ein Europäisches Parlament, das selbst Gesetze auf den Weg bringen und Einfluss auf die Wirtschaftspolitik in Europa nehmen kann.

Die Wirtschaftskrise ist noch ein sehr junges Phänomen. In den Köpfen der Leute ist sie erst vor ein paar Monaten angekommen. Und da wollen Sie schon wissen, wo es langgeht?

Das Problem liegt doch auf der Hand: In dieser Krise gehen produktive, gesunde Betriebe in die Knie, weil sie die notwendige Liquidität nicht mehr bekommen. Deshalb wollen wir ja Brücken bauen, um den Betrieben zu helfen. Nicht auf Dauer. Wir werden diese Brücken für einige Zeit errichten. Aber es geht dabei nicht um Vergesellschaftung. Wenn diese Krise überwunden ist, werden die Brücken wieder abgebaut, und die Unternehmen sind dann wieder auf sich alleine gestellt. Ich hätte dann allerdings gerne mehr Mitbestimmung und Mitarbeiterbeteiligung. Das ist Fortschritt in kleinen Schritten.

Sie helfen den Unternehmen – und als Belohnung soll es etwas mehr Mitbestimmung geben. Auf diese Weise soll dem Kapitalismus so ein bisschen mehr linke Gesellschaft abgeknapst werden. Springen Sie damit nicht zu kurz?

Gegenfrage: Glauben Sie, dass wir am Ende dieser Krise einen neuen Sozialismus haben werden? Ich nicht. Was wir aber schaffen müssen, ist ein verantwortlicher, sozial regulierter Kapitalismus, eine Wirtschaftsordnung, die unsere Gesellschaften nicht immer mehr spaltet. Und die fällt nicht vom Himmel. Es geht um Wirtschaftsdemokratie für ein soziales Europa. Das alles bedeutet Abgabe und Teilung von Macht. Glauben Sie mir, das wird hart. Und es wird reichlich Konflikte mit sich bringen.

Sie kritisieren in dem Papier, dass sich die Politik den Kräften des Marktes gebeugt hat. Wie kann der Primat der Politik zurückerobert werden?

Dadurch, dass die Entscheidungen der demokratischen Institutionen den Bürgern verpflichtet sind und nicht Unternehmensinteressen hinterherlaufen. Dadurch, dass öffentliche Güter auch öffentlich bereitgestellt oder zumindest öffentlich reguliert werden. Demokratie muss auch im Unternehmen stattfinden – und das nicht nur in Deutschland. Früher wurden wir in Europa für Freaks gehalten, wenn es um die Mitbestimmung ging. Jetzt heißt es überall: Schaut doch auf Deutschland. Unsere britischen Freunde finden auf einmal Aufsichtsräte spannend, in denen Arbeitnehmervertreter sitzen. Das war früher ganz anders. Es ist noch nicht lange her, da war die vorherrschende Meinung: Die in Deutschland machen alles falsch und die anderen machen dafür alles richtig.

Hat Sie das geärgert?

Nein. Aber dieser lange Weg hat gezeigt, dass SPD und Gewerkschaften nicht nur Recht hatten, sondern jetzt auch Recht bekommen haben. In Deutschland gibt es eine solide Sozialpartnerschaft, Mitbestimmung, Teilhabe, die nicht beim Betrieb aufhört. Das sind für mich die ersten Anfänge einer echten Wirtschaftsdemokratie. Und das könnte ein role model für ganz Europa werden.

Ist das das Ziel des Papiers: Ein neues Politikmodell für Europa zu etablieren?

Es ist ein Aufruf für ein europaweites Netzwerk von Sozialdemokraten, die die gute Gesellschaft schaffen wollen. Vielleicht mag das einigen als illusorisch erscheinen in dieser Krise. Ich sage demgegenüber: Jetzt ist die Zeit dafür.

Das ist ein ziemlich hoher Anspruch.

Mein Anspruch ist, dass die sozialdemokratischen Ideen in Europa eine neue kulturelle und politische Hegemonie erreichen. Und dazu soll die Debatte um die „gute Gesellschaft“ beitragen.

Das Gespräch führten Jakob ­Augstein und Philip Grassmann


-------------------------------------------------------------------------------
Hintergrund

Diskurs mit Tradition

Vor einem Jahr haben sich die SPD-Parteivize Andrea Nahles und der Labour-Politiker Jon Cruddas erstmals zusammengesetzt, um über ein neues gemeinsames Strategiepapier zu diskutieren. Beide gehören zum linken Flügel ihrer Partei. Cruddas scheiterte vor einem Jahr knapp damit, neuer Labour-Chef zu werden. Auf englischer Seite war auch das labour-nahe Netzwerk Compass mit eingebunden. Das Ergebnis dieser Überlegungen, „Die gute Gesellschaft“, wird in dieser Woche zeitgleich in London und Berlin vorgestellt.

Inhaltlich nimmt das Dokument Bezug auf die Überlegungen des Schröder-Blair-Papiers, das im Juni 1999 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem britischen Amtskollegen Tony Blair vorgelegt wurde. Mit diesem Dokument wollten die beiden Politiker den Kurs der Sozialdemokratie in Europa neu bestimmen. Das Schröder-Blair Papier leitete eine Politik ein, die auch als „Dritter Weg“ (Blair) oder „Neue Mitte“ (Schröder) bezeichnet wurde und eine Abkehr von der bis dahin gültigen Programmatik der SPD bedeutete.

Mit der „guten Gesellschaft“ wollen Nahles und Cruddas den inhaltlichen Diskurs der Linken neu beleben. Beide Politiker fordern eine andere, demokratischere Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und sprechen sich auch für einen anderen Politikstil aus, der mehr auf Dialog setzt und weniger „autoritär“ ist. Nahles und Cruddas setzen sich außerdem für eine Stärkung der europäischen Demokratie und neue , supranationale Finanzkontrollen aus. Die britische Linke ist sogar bereit, dafür den Euro einzuführen.