Karl Nolle, MdL
DIE WELT, Seite 4, 19.06.2009
Sachsens Regierungschef hat 1989 an Enteignungen mitgewirkt
Aktenfunde bringen Stanislaw Tillich erneut in Erklärungsnot — Verstrickung überschattet Wahlkampf im Freistaat
KAMENZ - Das Haus ist ein Traum. Es grenzt direkt an eine idyllische Flussaue, in der Ferne erhebt sich auf einem Burgberg die historische Altstadt. Neben der Lage zeichnet die Immobilie im sächsischen Kamenz eine weitere Besonderheit aus: Am 7. Dezember 1989, da war die Mauer längst gefallen, wurde sie noch ganz rasch in Volkseigentum überführt.
Die gesamte DDR-Zeit über hatte das schmucke Einfamilienhaus einer Familie gehört, die 1947 vor den Kommunisten nach Süddeutschland geflohen war. Es diente als Kindergarten, blieb aber ein „Westgrundstück". Erst als das SED-Regime wankte, wurde das Gebäude enteignet. Seltsam: Unterlagen zu dem Vorgang sind verschwunden.
An der Enteignung wirkte ein Mann mit, der heute zur Führungsriege der CDU zählt: Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich. Der Sorbe gehörte von Mai 1989 bis zumindest April 1990 als stellvertretender Vorsitzender dem Rat des Kreises Kamenz an, der einst die Konfiszierung des Einfamilienhauses beschloss.
Um die Glaubwürdigkeit des ostdeutschen Regierungschefs, der Ende August eine Landtagswahl als Spitzenkandidat zu bestehen hat, ist es nicht gerade gut bestellt. Seit einem halben Jahr halten ihm Kritiker vor, er habe nach der friedlichen Revolution seine Vergangenheit als DDR-Staatsfunktionär und Mitglied der Blockpartei CDU systematisch verschleiert. Seine
Staatskanzlei musste jüngst sogar vom Verwaltungsgericht Dresden dazu gezwungen werden, der Presse Auskünfte zu dem heiklen Thema zu erteilen. Dass Tillich auch an fragwürdigen Eingriffen in Eigentumsrechte beteiligt war, dürfte diese Debatte zusätzlich anheizen.
Dokumente aus dem Kreisarchiv und dem Grundbuchamt in Kamenz sowie die Erinnerung von Betroffenen lassen keine Notwendigkeit für die Enteignung erkennen. Übrigens war Tillich in mindestens einem zweiten Fall am „Entzug des Eigentumsrechtes" beteiligt, wie Enteignungen in der DDR beschönigend genannt wurden. Das Flurstück Kamenz Nr. 1165/1 wurde am 6. Juli 1989 „für Baumaßnahmen" in Volkseigentum überführt. Beide Enteignungen segnete der Rat des Kreises, in dem Tillich eine exponierte Funktion hatte, einmütig ab.
Das Einfamilienhaus wurde 1992 auf die Alteigentümer rückübertragen. Die Maßnahme erfolgte für damalige Verhältnisse erstaunlich schnell. Klaus Ziolko - sein Schwiegervater war Besitzer - erklärt sich das mit „der Einsicht in das Unrecht des Handelns". Nach seiner Darstellung wurden „die Gründe für die Enteignung erst nachträglich geschaffen". Als der Schritt schon beschlossene Sache gewesen sei, habe man eine Aufbauhypothek von 8800 DDR-Mark ins Grundbuch eingetragen. Ziolko: „Das war eine beliebte Methode, um Gebäude und Grundstücke ins Volkseigentum zu überführen."
Die Besitzerin des Nachbarhauses erinnert sich, dass die Ziolkos („sehr herzliche, bodenständige Menschen") zu DDR-Zeiten den Kontakt nach Kamenz nie abreißen ließen. Dass ihnen der elterliche Besitz noch nach dem Mauerfall entzogen wurde, sei ihr allerdings neu. Empört sagt sie: „Bei solchen Machenschaften ging es doch meist darum, sich unter der Hand etwas zuzuschanzen."
Die Enteignung fiel zwar nicht direkt in das Ressort von Tillich, doch er hatte die Entscheidung mit herbeigeführt. Zuständig war der gesamte Rat als höchstes politisches Gremium im Kreis. Auf einer dem Protokoll beigefügten Anwesenheitsliste der entsprechenden Ratssitzung prangt die Unterschrift von Tillich. Er war in dem Gremium für Handel und Versorgung zu ständig. Eine unpolitische Verwaltungsaufgabe war das keineswegs. So brachte der Nachfolger von Kurt Biedenkopf und Georg Milbradt (beide CDU) im Juli 1989 eine Beschlussvorlage in den Rat ein und versprach, „zu Ehren des 12. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" alle Reserven des Territoriums auszuschöpfen, um eine optimale Versorgung der BevölkerurT zu gewährleisten.
Diese in Überlieferungen festgehaltene Kumpanei mit dem Regime kratzt deshalb am Image des Regierungschefs, weil dieser beispielsweise im Oktober 2008 über seinen DDR-Werdegang behauptet hatte: „Mit Politik hatte ich wenig zu tun. In die Blockpartei CDU bin ich eingetreten, damit ich meine Ruhe vor der SED hatte." Ein anderes Mal sagte er: „Wir müssen aufpassen, dass die Wölfe nicht die Geschichte der Lämmer umschreiben."
Als im Herbst Tillichs Verstrickung publik wurde, musste er seine Biografie auf der Internetseite des Freistaates umschreiben lassen. Parteifreunde fürchten mittlerweile die Auftritte von Tillich, wenn im Herbst des 20. Jahrestages der friedlichen Revolution gedacht wird. Ende September 1989 hatte der Rat des Kreises Kamenz überlegt, wie „die Durchsetzung der Verfassung in der sozialistischen Gesellschaft gewährleistet" werden könne und „Sicherheitskontrollen" rund um den 40. Geburtstag des SED-Staates befürwortet - Oppositionelle hatten zuvor „an mehreren öffentlichen Gebäuden provokato= rische Losungen angebracht". We gen solcher Angriffsflächen des Ministerpräsidenten fällt es der. sächsischen Union zunehmend schwer, die Linke wegen ihrer Herkunft aus der SED zu attackieren.
Dafür müssen sich Christdemokraten ihre Vergangenheit vorhalten lassen. Heute stellt der SPD-Landtagsabgeordnete Karl Nolle in Dresden mit halbjähriger Verspätung ein Schwarzbuch zur „Kollaboration heutiger CDU-Funktionäre im SED-Regime" vor. Genannt werden mehr als 100 Namen, 26 Einzelporträts leuchten verschwiegene Details christdemokratischer Biografien aus. In der polemischen, aber faktengetränkten Schrift (Titel: „Sonate für Blockflöten und Schalmeien") ist Tillich ein ausführliches Kapitel gewidmet.
Ein Geheimnis der Enteignung des idyllisch gelegenen Einfamilienhauses in Kamenz kann möglicherweise nie gelüftet werden. Im Kreisarchiv findet sich nur das Deckblatt des Beschlusses des Rates des Kreises. Es fehlen die dahinterliegenden Seiten, die erklären könnten, wie damals vorgegangen wurde. Im Herbst hatte die Staatskanzlei eine Recherche in dem Archiv durchgeführt. Dass dabei Aktenteile entfernt worden sein könnten, hält das zuständige Landratsamt für „ausgeschlossen". Als die WELT in dem Archiv recherchierte, wurde übrigens sofort die Staatskanzlei darüber informiert. Es gebe eine „innerbehördliche Anweisung", räumt das Landratsamt ein. Die Staatskanzlei sah sich außerstande, Fragen dieser Zeitung fristgerecht zu beantworten.
Von Uwe Müller
Tillichs Enteignungsbeschluss vom 7. Dez. 1989, 4 Wochen nach dem Fall der Mauer