Süddeutsche Zeitung, 17.01.2002
Der Mythos vom Wunderland
In den Jahren nach der Wende sorgte Biedenkopf für Aufbruchstimmung und machte Sachsen zum Primus im Osten
DRESDEN. Eigentlich wollten sie ja Heiner Geißler als sächsischen Ministerpräsidenten, damals im Herbst 1990. Aber Geißler mochte nicht nach Dresden. „Der wollte lieber Drachenfliegen und seinen Bundestagswahlkreis behalten“, erinnert sich der Christdemokrat Matthias Rößler an die Zeit, als die friedliche Revolution der DDR in die Demokratie der Bundesrepublik mündete. Rößler, der heute Kultusminister ist, und die anderen jungen Politiker wollten keinen aus der DDR-CDU als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl. Also suchten sie Hilfe von außen. Es war Lothar Späth , damals Ministerpräsident in Baden- Württemberg, der Kurt Biedenkopf ins Gespräch brachte. Mitten in der Nacht rief Späth den Parteifreund an. Wenige Stunden später sagte Biedenkopf zu.
Daran erinnern sich sächsische Christdemokraten in diesen Tagen, da die Epoche der Aufbaujahre unter Biedenkopf zu Ende geht. Auch wenn der 71-Jährige seinen Ruf im Jahr 2001 arg ramponiert hat, werden die ersten zehn Jahre als Glücksfall für Sachsen gesehen – auch von Oppositionellen. „Wir waren damals ein ostdeutsches Bundesland wie jedes andere auch“, erinnert sich Minister Rößler. Heute sieht man sich längst nicht mehr als normales ostdeutsches Bundesland, sondern als eine Art Primus. Das wird als Verdienst Biedenkopfs gewertet.Die Stimmung in Sachsen ließ Lothar de Maizière, den letzten DDR-Ministerpräsidenten, an ein Orchester denken, das auf alten, kaputten Instrumenten unter dem Dirigenten Biedenkopf voller Begeisterung Beethovens Neunte spielt.
Biedenkopf hat seine Funktion als Mutmacher als seinen wichtigsten Verdienst beschrieben: „Das konnte so aber nur in Sachsen gelingen“, sagte er. Bei Amtsantritt wusste er aus Umfragen, dass die Heimatliebe der Sachsen noch die der Bayern übertrifft. Er konnte an eine vorzügliche Industrietradition anknüpfen und neue Schwerpunkte setzen, so die Ansiedlung großer Chip-Hersteller in Dresden oder der Autowerke bei Chemnitz und Leipzig.
Dreimal gewann er mit der CDU die absolute Mehrheit und sicherte politische Kontinuität. Der Wunderland-Mythos behielt für viele Sachsen sogar noch seine Kraft, als Wirtschaftsdaten längst ein anderes Zeugnis gaben. Thüringen hängte Sachsen bei Wachstum und Arbeitslosenzahlen ab. An Biedenkopfs Ansehen hat das wenig geändert. Den Höhepunkt erlebte er im Januar 2000; damals wurde er als Chef der Bundes-CDU gehandelt.
Dabei hatte Biedenkopf nach seinem Scheitern als CDU-Chef 1988 in Nordrhein-Westfalen in der Union als Außenseiter gegolten – er hatte sich mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl zerstritten. Und das, obwohl Kohl den Juristen 1973 aus der Wirtschaft als CDU-Generalsekretär in die Politik holte. Aufgefallen war Biedenkopf mit einer akademischen Blitzkarriere.
1967 übernahm der Professor die Führung der Ruhr-Universität Bochum und war damit der jüngste Rektor der Bundesrepublik. 1971 wechselte er in die Geschäftsführung des Waschmittelkonzerns Henkel. Als Generalsekretär wurde er zum Vordenker der CDU, geriet aber bald in Widerspruch zu Kohl. Bei der Feierstunde zu seinem siebzigsten Geburtstag lobte ihn sein Freund Meinhard Miegel als strahlend helle Gegengestalt zu Kohl. Als reinen Sachpolitiker, der dem Machtpolitiker Kohl zum Opfer gefallen sei. Nur wenig später begann der Mythos zu bröckeln, bald verkörperte Biedenkopf in den Augen seiner Kritiker genau das, was er an Kohl stets kritisiert hatte. Er schien mit seinem auf kritiklose Bewunderung ausgerichteten Auftreten dem Antipoden immer ähnlicher zu werden.
Begonnen hat die Erosion seiner Macht Mitte 2000, als zunehmend über seine Nachfolge diskutiert wurde und seine Politik auf mehr Widerstände stieß. Massiv an Rückhalt verlor er dann durch den Rauswurf seines langjährigen Finanzministers und Freundes Georg Milbradt Anfang 2001, den er als miserablen Politiker diffamierte. Die Entlassung des einflussreichsten Ministers und potenziellen Nachfolgers wurde auch von Teilen der CDU als irrationaler Versuch angesehen, einen ambitionierten Weggefährten auf Distanz zu halten. Plötzlich interessierte man sich auch für Affären und Peinlichkeiten, die vorher großzügig hingenommen worden waren. Ins Zwielicht brachte ihn die kostenlose Versorgung in seiner Dienstvilla. Das staatlich finanzierte Personal hatten die Biedenkopfs im Privathaus am Chiemsee eingesetzt. Die Brisanz der Affäre hat der Ministerpräsident lange nicht erkannt. Mit seinen erratischen Reaktionen brachte Biedenkopf die eigene Administration in Verlegenheit. Schließlich zahlte er 120 000 Mark an das Land, vor allem für den Einsatz des Personals.
Weiterhin hoffte er, Milbradt als Nachfolger verhindern zu können, scheiterte aber im September 2001 mit dem Versuch, dessen Wahl zum Parteivorsitzendenzu vereiteln. Kurz darauf geriet Biedenkopf in Verdacht, einen Untersuchungsausschuss des Landtags belogen zu haben. Die bissigsten Schlagzeilen lieferte der Ikea-Rabatt von 132 Mark, den die Biedenkopfs erhielten, obwohl das Möbelhaus sonst keine Rabatte gibt. Auch in Sachsen wurde immer mehr gespottet, wobei ihm viele Sachsen Umfragen zufolge nach wie vor dankbar sind. Das bleibt ihm erhalten – aber für einige Zeit auch die Affären.
(Jens Schneider)