Frankfurter Rundschau 13. 03.1972 !!!, 09.06.2015
Lagerwahlkampf: Willy Brandt will notfalls Betriebe mobilisieren - Kanzler tritt CDU/CSU mit Härte entgegen -
Mit drastischen Worten bat Bundeskanzler Willy Brandt am Wochenende (11./12. März 1972) einen harten Wahlkampf für den Fall angekündigt, daß die Verträge mit Moskau und Warschau im Bundestag wider Erwarten keine Mehrheit finden und dadurch Neuwahlen notwendig werden sollten.
„Dann werden wir die Betriebe mobilisieren",
erklärte der Kanzler. Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Rainer Barzel reagierte darauf mit der Bemerkung; Brandt sei „offensichtlich nervös" geworden.
Die sozialliberale Bundesregierung werde bei. eventuellen Neuwahlen alle Kräfte mobilisieren, um ihre Friedenspolitik zu verteidigen und verstärkt aus der Wahlentscheidung hervorzugehen, betonte der Kanzler. Vor Journalisten sagte er während einer zweitägigen Wahlkampfreise durch Baden-Württemberg am Wochenende in Singen wörtlich:
„Wenn es so kommen sollte, dann wird eben geholzt, dann werden wir die Betriebe mobilisieren, damit sie an die Urne gehen. Dann werden wir sehen, was in diesem Lande los ist. Ich habe das nicht gewollt. Dies ist nicht Weimar, wir sind keine Schlappschwänze an der Regierung."
Brandt fuhr fort:
„Es gibt in diesem Land nicht nur wildgewordenes Kleinbürgertum. Wir sind nicht die schwachen Sozialdemokraten von Weimar."
Er werde künftig in jeder ,Stunde, in der er nicht an seinem Schreibtisch in Bonn arbeiten müsse, hinausgehen, um das Volk „aufzurütteln" und ihm zu sagen, welche Gefahren es abzuwehren gelte.
Der Bundeskanzler unterstrich weiter, er gehe grundsätzlich davon aus, daß die Verträge mit Moskau und Warschau vorn Bundestag ratifiziert werden: „Die Mehrheit wird zwar knapp sein, aber sie wird ausreichen."
In einem Interview mit dem „Schwarzwälder Boten", das in der heutigen Montagausgabe veröffentlicht wurde, betonte Brandt, bei der von ihm angekündigten Mobilisierung der Betriebe gehe es nicht um, einen Aufruf an außerparlamentarische Kräfte gegen Teile des Parlaments.
„Offensichtlich ist der Bundeskanzler nervös geworden", erklärte der CDU-Vorsitzende Barzel in der „Welt am Sonntag zu den Äußerungen Willy Brandts. „In der Bundesrepublik Deutschland gehen nicht Betriebe zur, Wahl" meinte Barzel, "sondern Mitbürger, und die Arbeitnehmer in unserem Lande merken besonders die Folgen der Inflation. Der Bundeskanzler .sollte argumentieren und nicht drohen.“
Vor der 17. Bundestagung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) erklärte Barzel, der Begriff „Holzen" sei ein Berliner Fußballausdruck und bedeute nichts anderes, als „erst gegen das Schienenbein des Gegners und dann gegen den Ball zu treten. Barzel wertete die Äußerungen Brandts als Ausdruck sichtlicher Unfairness.
Zur Lage in der Bundespolitik sagte er „Das, was in Bonn ist, ist eine Krise“, allerdings nicht eine Krise des Staates oder des Parlaments, sondern der Koalition“.
Auf einer Pressekonferenz während der EAK Bundestagung äußerte sich das neue Vorstandsmitglied, Bundestagspräsident Uwe von Hassel, sehr zurückhaltend über die Notwendigkeit von Neuwahlen. Er wandte sich zwar nicht prinzipiell, gegen Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt, wie es der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß in Taunusstein / Hessen getan hatte, sagte aber, die Frage der Neuwahlen sei „allein abhängig von der Entscheidung des Bundeskanzlers“.
Die CDU hat nach den Worten ihres Generalsekretärs Konrad Kraske „in gewisser Weise"' Verständnis dafür, daß im Lager der westlichen Verbündeten der Bundesrepublik Besorgnis über ein Scheitern der Ostverträge im Bundestag besteht.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte der Oppositionspolitiker am Sonntag jedoch, selbst in der NATO müsse man Verständnis dafür haben, dass sie Interessen in manchen Bereichen auseinandergingen. Die Entscheidung über die Ostverträge im Bundestag können nur unter dem Gesichtspunkt der deutschen Interessen getroffen werden. Der Generalsekretär betonte: „Das bedeutet, dass wir trotz der Stimmen aus dem Ausland sagen: diese Verträge sind unvollständig.“ Kreisky erinnerte noch einmal an den Vorschlag Bartels, die Verträge liegen zu lassen, bis weitere Voraussetzungen geklärt seien. Im übrigen werde die CDU/CSU die Stimmabgabe freigeben. “Jeder einzelne wird entscheiden, wie er zu dieser Sache steht“, sagte Kraske, doch sei er sicher, dass jeder Abgeordnete in der CDU/CSU gegen die Verträge stimmen werde.
Kaske gab in dem Interview zu, dass beim Polen-Vertrag die Argumente und die Begründungen nicht immer übereinstimmten, dass mancher hier einen anderen Weg gehe.
Schröder wiederholt Rücktrittsforderungen
Auch. der stellvertretende CDU Vorsitzende Gerhard Schröder wiederholte am Sonntag in einem Interview mit Bild am Sonntag" die Forderung nach einem Rücktritt der Bundesregierung. Der frühere Bundesaußenminister vertrat ferner die Auffassung eine Ablehnung der Ostverträge würde kein "Desaster und ein Ausgleich mit der Sowjetunion möglich sein.
Vor der Bundestagung des EAK in Pforzheim hatte Schröder außerdem erneut gefordert, die Bundesregierung solle dem Parlament die Verhandlungsprotokolle zu den Ostverträgen vorlegen. Eine Unterrichtung allein sei nicht ausreichend.
Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Herbert Wehner, hat am Wochenende in einem Interview mit der "Nürnberger Nachrichten“ erklärt, er glaube nicht, dass ein Abgeordneter der CDU/CSU-Fraktion aus der Fraktionsdisziplin ausscheren und für die Ostverträge stimmen werde. Die Fraktionsdisziplin werde eingehalten, gleichgültig, was der einzelne Abgeordnete von den Verträgen halte. Im Hinblick auf die zahlreichen Mahnungen aus westlichen Hauptstädten vor den Folgen eines Scheiterns der Verträge im Bundestag sagte Wehner, die CDU/CSU stehe mit ihrer Meinung über die Verträge ganz allein. Die Ansicht Schröders, man könne das Berlin-Abkommen auch ohne Ostverträge abschließen, wies Wehner entschieden zurück.
Über die Stimmung in der CDU/CSU Bundestagsfraktion sagte der SPD-Politiker:
„Es gibt dort Leute die in Panik und solche die in Hass ausbrechen, weil das was Gewissen genannt wird bei Ihnen schläft.“
Die Annahme der Ostverträge, allerdings mit einer möglichst knappen Mehrheit, entspreche der Interessenlage von CDU Chef Rainer Barzel, erklärte am Wochenende auf einer Wahlkundgebung in Freiburg der stellvertretende SPD-Vorsitzende, Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt. Da Barzel Kanzler werden wolle, könne ihm nicht daran gelegen sein, durch ein Scheitern der Verträge die Verständigungsmöglichkeiten mit dem Osten zu verschütten, die Zusammenarbeit mit den Bündnispartnern zu beeinträchtigen und zugleich eine Berlin Krise heraus herauf zu beschwören, sagte Schmidt
Die SPD verfügte nach den Worten ihres Bundesgeschäftsführers Holger Börner“ natürlich“ bereits jetzt über ein Wahlkampfkonzept falls es zu vorzeitigen Neuwahlen zum Bundestag kommen sollte.
Börner betonte am Wochenende in einem Interview mit der Berliner Zeitung „Telegraf“ ferner, er wolle nicht auf über „gelegte Eier“ sprechen. Die SPD sei aber „im Falle eines Falles“ in der Lage aus dem „Stand“ in den Wahlkampf zu gehen.
Der SPD-Politiker bekräftigte jedoch die Auffassung einer Partei das die sozialliberale Koalition weiterhin eine Mehrheit habe.