Karl Nolle, MdL

Süddeutsche Zeitung .8. Oktober 2018, 17:31, 08.05.2019

Kapitalismus ist kein Schicksal

 
 Kapitalismus ist kein Schicksal
 
Und der Sozialismus nicht die Lösung. Beides hängt enger zusammen, als vielen klar ist.

Essay von Andreas Zielcke

Wie sozial ist Privateigentum? Wie sozial ist der Kapitalismus?
 
Jetzt, da alle Welt der kapitalistischen Marktwirtschaft die alternativlose Alleinherrschaft auf dem Feld der Ökonomie bescheinigt, stellen sich diese Grundfragen mit neuer Brisanz. Dominant, wie der Kapitalismus ist, muss er sich die sozialen, ökologischen und auch ökonomischen Kollateralschäden zurechnen lassen, die sämtliche Wohlstandsfortschritte belasten.

Mit jedem Marktversagen versagt auch ein Eigentumskonzept. Wie fatal sich unternehmerische und konsumerische Eigentumsfreiheiten auf Klima und Umwelt auswirken, braucht man nicht mehr auszumalen. Im Moment treibt Großstädter ein anderes Beispiel um, die Wohnungsnot. Weil weder Mietpreisbremsen noch Erhaltungssatzungen die Not lindern und weil auch die von der Koalition geplante Reform eher Hilflosigkeit bezeugt, fasst die öffentliche Debatte umso rigorosere Fesseln des Grundeigentums ins Auge.
Danach soll der Mietpreis noch stärker gedeckelt, der Milieuschutz auf ganze Innenstädte ausgeweitet und das Verbot, Miet- in Eigentumswohnungen umzuwandeln, massiv verschärft werden. Noch weiter geht der Vorschlag, die Grundsteuer durch eine Bodensteuer zu ersetzen, um unverdiente Wertsteigerungen zumindest teilweise abzuschöpfen. Und vollends radikal ist die Forderung, den innerstädtischen Boden gänzlich in Gemeineigentum zu überführen.

Jede dieser Verfügungsbeschränkungen, nicht nur die radikale, geht dem Wohnungseigentum an die Substanz. Wenn der Economist schon für Großbritannien beklagt, dass das "Bauplanungsrecht bereits derart kollektiviert ist, dass es nahe daran ist, den Begriff des Eigentums zu zersetzen", was gilt dann für das schon jetzt strenger regulierende deutsche Boden- und Mietrecht, geschweige denn für das anvisierte? Aber wo auch immer, die Unterstellung des Economist ist überspitzt, aber nicht absurd. Wie bereit ist man inzwischen, das ist in der Tat die Frage, privates Grundeigentum zu entprivatisieren, sprich: zu sozialisieren?

Und selbstverständlich nicht nur das Grundeigentum. Sozialisierungselemente durchdringen den gesamten Markt, keine Investition, die nicht mehr auf Arbeits-, Umwelt-, Gesundheits- oder Verbraucherschutz oder sonstige soziale Rücksichten verpflichtet wäre. Gibt es also einen impliziten Sozialismus im Kapitalismus?

Der Kapitalismus muss "gezähmt" werden, soll aber erhalten bleiben. Das ist die übliche Wahrnehmung

Eine irritierende oder eine triviale Unterstellung? Trivial wäre sie, würde man sie darauf reduzieren, dass das Eigentum zumindest in Deutschland ja schon von Verfassung wegen sozialgebunden ist ("Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen."). Doch ein solcher Hinweis verfehlt die sehr viel größere Dimension des Problems. Die Sozialisierung des Eigentums reicht über die gesetzgeberische Sphäre hinaus tief in gesellschaftliche und ökonomische Prozesse hinein.

Natürlich lässt sich heute mit dem Begriff "Sozialismus" nach dem Desaster des "real existierenden Sozialismus" nicht mehr unbefangen hantieren. Viele, nicht nur amerikanische Republikaner, nennen ihn nur noch mit Verachtung. Andere halten an ihm fest, vor allem in der Fassung eines "demokratischen Sozialismus". In Europa verbinden allerdings die meisten damit nur mehr eine sozialstaatliche Programmatik, die sich ausdrücklich vom Marx'schen Kommunismus distanziert.

Aber auch unter denen, die noch unbeirrt an dieses Ziel glauben, seien es europäische Sozialisten alten Schlages, seien es junge Kämpfer wie die "Democratic Socialists of America", dürften die wenigsten abstreiten, dass ihre Idee derzeit platonisch ist, zumindest eine sehr entrückte Utopie (wobei keiner so heftig gegen den sozialistischen Utopismus wetterte wie Marx selbst).
Doch für den Punkt, um den es hier geht, kommt es nicht darauf an, wie verschieden und realistisch die Vorstellungen vom Sozialismus sind. Entscheidend ist, was sie teilen. Nach wie vor unterstellen sie alle, dass ein Sozialismus im vollen Sinn nur existiert, wenn das Eigentum an den Produktionsmitteln vergemeinschaftet ist. So gesehen ist und bleibt er der begriffliche Gegensatz zum Kapitalismus, seine Aufhebung, seine Verneinung. Eben darum strebt ihn die sozialdemokratische Praxis nicht mehr an, sie will den Kapitalismus erhalten. Sie will ihn "zähmen" oder "eindämmen" und seine sozialen Mängel kompensieren, aber sie setzt auf ihn, auf seine noch immer beispiellose ökonomische Potenz.

Hier der (ökonomisch unersetzliche) Kapitalismus, dort der (ökonomisch unergiebige) Sozialismus - das ist die übliche Wahrnehmung. Nichts anderes meint die alltägliche Unterstellung, hier in den Worten des Sozialhistorikers Jürgen Kocka, dass "gegenwärtig keine überlegene Alternative zum Kapitalismus erkennbar ist".

Womöglich aber blockiert genau diese Wahrnehmung die überfällige Änderung der Blickrichtung: Ist es nicht an der Zeit, den Sozialismus nicht mehr als (irreale) Alternative zum Kapitalismus zu verstehen, sondern als integralen Faktor im Kapitalismus?

Nachfrage, Austausch der Güter, die Entwicklung marktreifer Technologien - alles sind gesellschaftliche Leistungen

Der Markt, um mit dem Fundament zu beginnen, ist keine private, sondern eine gemeinschaftliche Veranstaltung aller Beteiligten. Nachfrage, Austausch und Zirkulation der Güter, die Entwicklung "marktreifer" Technologien und Dienste, der Aufbau einer gemeinsamen Infrastruktur, alles sind gesellschaftliche Leistungen und soziale Kettenreaktionen. Nicht zuletzt Friedrich August von Hayeks zentrale These, dass die freie Preisbildung des Marktes alle wichtigen Informationen abbilde und so die bestmögliche Allokation sämtlicher Güter und Investitionen bewirke - auch dies ist nur als gesellschaftliche Konstruktion zu fassen.

Dass das kollektive Zusammenspiel, aus dem diese wirtschaftliche Optimierung hervorgeht, als "unsichtbare Hand" bezeichnet wird, beweist nur eine begriffliche Verlegenheit, die noch aus Adam Smiths vorsoziologischer Zeit stammt. Man ist schon einen ganzen Schritt weiter, betrachtet man dieses soziale Räderwerk der Optimierung als einen gesellschaftsweiten Rückkopplungsprozess, der seismografisch sensibel auf ökonomische Anforderungen reagiert.

Überhaupt muss die wirtschaftstheoretische Beschreibung soziologisch ergänzt werden. Der gesamte kapitalistische Verwertungsprozess ist bestimmt von Bildung, Mentalitäten, Fähigkeiten und Verantwortungskompetenzen, die gesellschaftlich hervorgebracht werden und ihn lebendig halten. Vor allem das Wissen trägt, nicht erst seit dem Ausrufen der "Wissensökonomie", den Schub der Produktivität und die laufende Innovation des Kapitalkreislaufs.
Privatisierbares, patentierbares Wissen leistet hierfür nur den kleinsten Beitrag. Den Löwenanteil stellt der allgemeine Wissensbestand der Gesellschaft, besonders der Fundus der Wissenschaften.
 
Gesellschaftswissenschaftler sprechen schon lange vom "Kommunismus des Wissens". Der Kapitalismus befände sich noch in den Kinderschuhen, gäbe es nicht diese unermessliche kognitive Allmende.

Und selbst das benennt noch nicht die eigentliche Pointe. Begreift man den Kapitalismus als soziale Veranstaltung, dann müsste das Problem, dessen Lösung er darstellt, etwa so lauten: Wie muss eine Gesellschaft wirtschaften, wenn die folgenden fünf Prämissen unabdingbar sind?

Erstens die Freiheit des Individuums, zweitens ein ökonomischer Umgang mit knappen Ressourcen, drittens die Breitenförderung von Wohlstand, viertens die Rationalität von Investitionsentscheidungen, fünftens die Sicherung des Gemeinwohls. Es ist klar, dass diese Prämissen scharfe Wertungskonflikte auslösen können, zumal wenn man alle fünf mit der Bedingung "nachhaltig" versieht.

Der fruchtbare Effekt des Umdenkens wäre, dass man irreale Utopien aufgibt
Aber klar ist auch, dass allein die erste Prämisse jede zentrale Wirtschaftslenkung ausschließt, sofern diese als Kommandosystem die individuelle Handlungsfreiheit vereitelt. Folgt daraus, dass das Freiheitsprinzip zwingend das Privateigentum an Produktionsmitteln erfordert? Eine heiße Frage, die wir hier aussparen. Sicher ist jedenfalls, dass das Wirtschaften, das über privates Eigentum organisiert wird, vier Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich die ersten vier der fünf Prämissen erfüllen soll.
Wie in einem dezentralisierten Nervensystem oder Netzwerk wird die wirtschaftliche Entscheidungsfindung unabhängig operierenden Netzknoten/Individuen überlassen. Aus Eigeninteresse müssen diese ihre Ressourcen so ökonomisch wie möglich einsetzen, wenn sie an dem offen, flüssig und kompetitiv gehaltenen Rückkopplungsprozess teilhaben wollen. Alle Rückkopplung erfolgt ausschließlich über neutrale Kommunikationsmedien wie Geld, Wissen, gesetzliche Spielregeln, Sprache oder praktische Intelligenz.

Die Paradoxie eines solchen Systems liegt auf der Hand. Obwohl es wirkungsvoll wie wohl kein anderes den Wohlstand mehrt, hat ausgerechnet die fünfte Prämisse, das (nachhaltig verstandene) Gemeinwohl, in ihm den prekärsten Stand. In einem dezentralen System lässt sich das Gesamtinteresse stets nur indirekt und reflexiv verfolgen. Dieses "indirekt und reflexiv" bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die organisierte Solidarität, den Staat.

Auch wenn dies nur eine grobe Skizze ist, kann sie vielleicht veranschaulichen, dass der Kapitalismus, so sehr er sich auf das Arrangement von Individuen mit autonomer Verfügungsmacht verlässt, eine Veranstaltung der Gesellschaft für die Gesellschaft ist. Streng genommen enthält der Kapitalismus nicht sozialistische Elemente, sondern ist selbst eine genuine Form des Sozialismus.

Seit dem Kommunistischen Manifest hängen viele noch immer der Vorstellung an, dass der Sozialismus ein Jenseits des Kapitalismus ist. Diesen Irrtum sollte man loswerden. Das hätte den fruchtbaren Effekt, dass man nicht wegen der schweren Defizite des Kapitalismus auf sein Ende hoffen, von irrealen Utopien träumen oder resignieren muss, sondern die Lösung in ihm selbst sucht. Kapitalismus ist ein soziales Projekt, kein soziales Schicksal, gegen dessen Schläge man sich im besten Fall nur versichern kann.

Die Verursachung der Klimakatastrophe, die städtische Wohnungsnot, die extreme Ungleichheit, die usurpatorische Vormacht des Finanzmarkts, die digitalen Oligopole, all das widerspricht dem im Kapitalismus verkörperten sozialen Grundversprechen. Es hilft nichts, über den Kapitalismus zu jammern und zu klagen und zu versuchen, ihn wie ein asoziales Monster auszuschalten (exemplarisch Naomi Klein: "Die Entscheidung - Kapitalismus vs. Klima"). Die Lösung im Sozialismus suchen heißt, sie im Kapitalismus finden.

URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/essay-kapitalismus-ist-kein-schicksal-1.4161022 Copyright: Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH Quelle: SZ vom 09.10.2018

Karl Nolle im Webseitentest
der Landtagsabgeordneten: