Deutscher Bundestag,Plenarprotokoll 13/155, 31.01.1997
Arbeitsmarkt, Ostdeutschland und Integration der Teilwirtschaft Ost in die nationale Gesamtwirtschaft.
Rede von MP Kurt Biedenkopf vor dem Bundestag
Deutscher Bundestag:
Plenarprotokoll 13/155 vom 31.01.1997
Seite: 13983
(...) noch: Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
Die Weltkonjunktur ist überall aufwärtsgerichtet und stützt unseren Export. Die D-Mark-Aufwertung hat sich zurückgebildet. Niedrige Nominalzinsen kommen den Investitionen zugute. Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich gehe davon aus, daß wir in diesem Jahr trotz des Einbruches bei der Baukonjunktur eine Erhöhung bei den Ausrüstungsinvestitionen in der Größenordnung von 5 Prozent schaffen. Das ist eine erhebliche Steigerung gegenüber dem Vorjahr. Die Preise sind stabil, und die Lohnentwicklung ist auf einen moderaten Pfad eingeschwenkt. Unser Land hat ungeheure Ressourcen, gefangen in Strukturen, die aufgebrochen werden müssen. Wieweit das gelingt, hängt von allen Beteiligten ab: von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften.(Detlev von Larcher [SPD]: Dann sind wir verlassen!)Die Bundesregierung wird nicht nachlassen, ihr Konzept - ein in sich schlüssiges Konzept - umzusetzen. Sie wird nicht nachlassen, Verantwortung bei denen einzufordern, die mit dem Finger auf andere zeigen und sich selbst einer mutigen und konzeptionellen Politikent ziehen wollen.(Zuruf von der SPD: Gerade Sie!) Dies gilt nicht nur für die parlamentarische Opposition, aber auch für sie. Die Bundesregierung stellt sich ihrer Verantwortung, und sie wird erfolgreich sein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Detlev von Larcher [SPD]: Noch mehr Arbeitslose! Das ist Ihr „Erfolg"!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Als Mitglied des Bundesrates spricht nun der Ministerpräsident des Landes Sachsen, Professor Kurt Biedenkopf.
Ministerpräsident, Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die wesentlichen Teile der Wirtschaftspolitik, der Steuerpolitik, der Sozialpolitik und damit auch der Arbeitsmarktpolitik sind Bundesangelegenheiten. Trotzdem werden wir in den Bundesländern - das gilt für alle Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten - für das, was in unseren Ländern geschieht, genauso in die Verantwortung genommen; denn vor Ort wirkt sich die Arbeitslosigkeit aus, vor Ort wirken sich die Folgen sozialer Veränderungen aus, und vor Ort wirkt sich vor allen Dingen die Veränderung der Wirklichkeit aus. Ich möchte mich in diesem Redebeitrag im wesentlichen auf die Arbeitsmarktfragen und die Zusammenhänge beschränken, innerhalb deren sich die Arbeitsmarktentwicklung vollzieht. Es ist schon viel an Erharder innert worden. Zu den großen und bedeutenden Grundsätzen, die er verwirklicht hat, gehört der Gedanke des ordnungspolitischen Ansatzes, das heißt die Fragestellung, die nicht nur das Einzelstück der Politik sieht, sondern die Zusammenhänge zwischen den Teilen. Zu einem Teil kommt es mir auf diese Zusammenhänge an. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich dabei vielleicht mehr Aufmerksamkeit auf die Sachverhalte lenke, als das in der bisherigen Debatte der Fall war. Ich möchte noch einmal meinen Vorschlag aufnehmen, den ich bereits 1993 gemacht habe, als mir in Dresden vom Deutschen Gewerkschaftsbund die Hans-Böckler-Medaille verliehen wurde. Ich habe damals vorgeschlagen- ich halte diesen Vorschlag heute noch für genauso relevant -, daß die Beteiligten, wenn sie miteinander reden und nach Lösungen suchen, zunächst einmal den Versuch unternehmen, sich darauf zu verständigen, was denn im Arbeitsmarkt wirklich passiert und was sich vor allen Dingen in den letzten 25 Jahren ereignet hat. Weil wir, der Kollege Stoiber und ich, das für eine unverzichtbare Voraussetzung für zielgerichtete Politik halten, haben wir eine Expertenkommission gebeten, dazu Untersuchungen anzustellen. Der Bericht ist vorhin bereits angesprochen worden. Es ist der erste Schritt zu einer umfangreicheren Untersuchung, von der ich hoffe, daß sie ihren Einfluß auf die politische Willensbildung nicht verfehlt; denn man kann die Wirklichkeit nur verändern, wenn man die Wirklichkeit kennt. Wenn man von der falschen „Wirklichkeit" ausgeht und dann interveniert - auch das ist Ludwig Erhard -, erzielt man Wirkungen, die man nicht wollte. Was ist die Wirklichkeit? Die Wirklichkeit ist eine höhere Arbeitslosigkeit, als wir sie bisher hatten. Aber diese Arbeitslosigkeit ist nicht homogen, sondern sehr verschieden. Die Arbeitslosen teilen sich in ziemlich gleich große Gruppen von je einem Drittel auf. Die erste Gruppe stellen die Arbeitslosen dar, die weniger als drei Monate lang arbeitslos sind. Das sind zum erheblichen Teil Frauen und Männer, die ihren Arbeitsplatz wechseln. Nun ist auch das schwierig. Der Wechsel des Arbeitsplatzes ist aber eine unvermeidbare Konsequenz einer sich schnell verändernden Wirtschaftsstruktur. Fachleute aus allen Bereichen sagen, daß wir in etwa 10 bis 15 Jahren 40 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts mit industriellen und sonstigen Aggregaten erzeugen werden, die es heute noch nicht gibt. Dies wird insbesondere durch die rapide Zunahme der Bedeutung der Informationswirtschaft ausgelöst. Die Informations- und Wissenswirtschaft, so einige Prognosen, wird in 10 Jahren etwa 35 bis 40 Prozent - manche schätzen sogar 50 Prozent - des Bruttoinlandsprodukts, also der Wertschöpfung, erzeugen. Das aber bedeutet eine ständige Verlagerung der Ressourcen, also Kapital und Arbeit, von bisherigen Aktivitäten auf neue. Diese Verlagerungen sind mit Reibungsverlusten verbunden. Der Arbeitnehmer, der in einem Unternehmen seinen Arbeitsplatz verliert, einen neuen sucht und ihn innerhalb von drei Monaten findet, ist in der Zwischenzeit arbeitslos und muß seine Versicherung in Anspruch nehmen. Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Arbeitslosigkeit ist kein sozialpolitisches Problem. Sie ist vielmehr Ausdruck einer sehr mobilen, Gesellschaft. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen, wenn wir mit Globalzahlen argumentieren.
Deutscher Bundestag:
Plenarprotokoll 13/155 vom 31.01.1997
Seite: 13984
noch: Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)
In bezug auf dieses knappe Drittel, auf diejenigen, die weniger als drei Monate lang arbeitslos sind, macht es wenig Sinn, wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen, um diese Arbeitslosigkeit zu verringern. Das kann man, wenn man es überhaupt will, nur in regional kleinen Räumen machen. Nur dort kann man die Anpassungsgeschwindigkeit bei Veränderungen der Wirtschaftsstruktur erhöhen. Das zweite Drittel der Arbeitslosen ist das eigentlich ökonomisch bedeutsame Drittel. Das nämlich sind die zwischen drei Monaten und einem Jahr Arbeitslosen. In dieser Gruppe sind diejenigen, die nicht im Zuge der Veränderung, der Mobilität im Arbeitsmarkt - im statistischen Mittelwechseln rund 20 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland jährlich den Arbeitsplatz; es besteht also eine hohe Mobilität, und zwar schon seit Jahren -, arbeitslos geworden sind. Hier treten Schwierigkeiten auf, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Zu einem nicht unwesentlichen Teil - das ist für unsere politische Analyse und vor allen Dingen für unser politisches Handeln wichtig - sind in dieser zweiten Gruppe Frauen, die wieder in den Arbeitsmarkt wollen und nicht sofort einen Arbeitsplatz finden, sondern ein dreiviertel Jahr oder länger danach suchen. Das dritte Drittel bilden die Langzeitarbeitslosen, diejenigen, die über ein Jahr lang arbeitslos sind. Die Langzeitarbeitslosen sind zu einem erheblichen Teil vermindert vermittlungsfähig, und zwar entweder weil sie behindert sind oder weil sie schon sehr lange aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden sind oder weil sie älter sind.(Dr. Barbara Höll [PDS]: Oder überqualifiziert!) Für dieses Drittel brauchen wir Maßnahmen, die über die ökonomischen hinausgehen: Wiedereingliederungshilfen,(Ina Albowitz [F.D.P.]: Machen wir doch!)Subventionen von Arbeit bei Beginn einer Wiederbeschäftigung langfristiger Arbeitsloser usw. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen - darüber waren wir Ministerpräsidenten uns im Mai letzten Jahres in unserer Sondersitzung über die arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitischen Fragen einig -, daß wir für die verschiedenen Sektoren der Arbeitslosigkeit verschiedene Politiken brauchen. Wenn wir das nicht zur Kenntnis nehmen, sondern die Arbeitslosenzahl als eine Global zahl betrachten und ausgehend davon Politik machen wollen, wird diese Politik sehr wenig effizient sein. Das zweite ist - das ist hier von verschiedener Seite angesprochen worden - der Rückgang des Arbeitsvolumens. Auch das haben die Ministerpräsidenten im Mai vorigen Jahres bereits behandelt. Ich bedaure etwas, Herr Kollege Lafontaine, daß diese Arbeiten nach Krickenbeck nicht fortgesetzt werden konnten. Wir haben festgestellt, daß unsere hochentwickelte Industriegesellschaft vor einem Erfolgsdilemma steht. Wir haben nämlich seit 1960 gelernt, die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, und zwar soweit - ich kann mich nur auf die Zahlen von 1970 bis 1995 beziehen -,daß wir im Jahre 1995 in der Lage waren, das Bruttoinlandsprodukt mit genau 50 Prozent der Arbeitsleistung von 1970 zu erzeugen. Dieser Prozeß geht ununterbrochen weiter. Das heißt, die Produktivität der Arbeit wächst schneller als das Bruttoinlandsprodukt.(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Die Arbeitszeitverkürzung!) Meine Damen und Herren, als wir auf einer Veranstaltung der IG Metall in Chemnitz kürzlich des ersten Metallarbeiterstreiks vor 125 Jahren gedachten, haben wir festgestellt, daß die Jahresarbeitszeit damals 3800 Stunden betrug. Heute beträgt sie 1 520 Stunden. Das heißt, wir haben die Arbeitszeit seit 1960 ständig verändert, verkürzt.(Zuruf von der SPD)- Nein, der Arbeitsmarkt selbst hat das bewirkt. Der Arbeitsmarkt, die Tarifparteien, die Verlängerung der Ausbildungszeit, die vorgezogene Verrentung trugen zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit bei. Diese Möglichkeiten der Verkürzung der Lebensarbeitszeit sind inzwischen erschöpft. Deshalb ist der Umfang der Vollzeittätigkeit inzwischen zurückgegangen, und zwar dramatisch. 1960 waren 98 Prozent aller Beschäftigten in einer Vollzeittätigkeit. 1995 waren es noch 68 Prozent. Der Rest der Beschäftigten ist in Teilzeittätigkeit, geringfügiger Beschäftigung, Scheinselbständigkeit, Kurzarbeit usw. Das heißt, es gibt eine dramatische Veränderung der Arbeitsmarktstruktur.(Zuruf von der SPD: Wer hat das gemacht?)- Wer hat das gemacht? Das haben in erster Linie die Menschen im Land gemacht, nicht die Politik. Wollen wir uns hier doch nicht überschätzen: Wir schaffen keine Arbeitsplätze, wir schaffen allenfalls die Bedingungen dafür, daß sie entstehen können.(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Alles andere ist eine maßlose Selbstüberschätzung. Das Interessante an diesem Prozeß ist, daß alle Konjunkturprogramme - unter Helmut Schmidt wie unter Helmut Kohl - auf diese langfristige Entwicklung nur einen sehr geringen Einfluß haben. Es gibt kurzfristige Reaktionen des Arbeitsmarkts, aber dann geht der normale Prozeß weiter. Dieser normale Prozeß wird von Millionen von Menschen vorangetrieben. Wir können auf Länder- wie auf Bundesebene, im Bundestag und im Bundesrat, dazu beitragen, daß sich dieser Prozeß in wettbewerbsfähiger Form weiterentwickelt, ohne daß er Nebenwirkungen zeigt – insbesondere im sozialen Bereich -, die mit unserer Wertvorstellung, die in diesem Land einen Grundkonsens darstellt, nicht vereinbar sind. Darüber wird im Grunde gestritten.
Deutscher Bundestag:
Plenarprotokoll 13/155 vom 31.01.1997
Seite: 13985
noch: Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)
Wir waren uns einig und sind es eigentlich bis heute - auch das habe ich den Reden entnommen -, daß die Beschäftigungspolitik nicht nur wesentlich von der Verringerung des Arbeitsvolumens und von der Globalisierung abhängt, sondern natürlich auch von den Kosten. Hier ist viel von Steuerpolitik, etwas weniger von Sozialpolitik die Rede gewesen. Ich will nichts von dem wiederholen. Ich will nur darauf hinweisen: Für den normalen Beschäftigten ist die Steuerbelastung eine Sache, die Beitragsbelastung eine andere. Die Sozialbeiträge hat man schon in den 20er Jahren als die Steuern des kleinen Mannes bezeichnet. Ich glaube - da stimme ich mit Norbert Blüm überein -, daß die Diskussion über die versicherungsfremden Leistungen weniger ertragreich sein wird, als das auf Grund vielfältiger Äußerungen anzunehmen ist. Die Ministerpräsidenten hatten sich ebenfalls vorgenommen, einmal zu definieren, was versicherungsfremde Leistungen sind.(Ina Albowitz [F.D.P.]: Da bin ich jetzt gespannt!)Das erweist sich als außerordentlich schwierig. So kann man zum Beispiel der Meinung sein, daß Kindererziehungszeiten für die Rentenversicherung versicherungsfremde Leistungen sind. Man kann aber auch die Auffassung vertreten, daß das Großziehen von Kindern die eigentliche Voraussetzung dafür ist, daß die Versicherung auch in Zukunft funktioniert.(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)Im zweiten Fall wäre es keine versicherungsfremde Leistung, im ersten Fall wäre es eine. Ich wäre sehr gespannt, als Zuhörer in diesem Hohen Hause einmal mitzuerleben, wie die endgültige Entscheidung zu dieser Frage ausfällt.(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die meisten Frauen, die Kinder großziehen, sind jedenfalls nach meiner Erfahrung der Auffassung, daß sie eine unverzichtbare Investition in die gesetzliche Rentenversicherung leisten.(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Sie sind maßlos verbittert, daß ihnen diese Investition nicht entgolten wird - jedenfalls nicht in dem Umfang, wie sie sich das wünschen. Ich will damit nur zum Ausdruck bringen, daß neben der Steuerreform die Reform der Sozialsysteme von größter Bedeutung ist. Wenn es uns nicht gelingt, diese Reformen so miteinander zu vernetzen, daß am Ende eine gemeinsame, also eine beide Bereiche des Systems umfassende Antwort auf die Frage nach der zukünftigen Lastenverteilung zwischen Arbeit und Gütern herauskommt, dann werden wir keinen wesentlichen Beitrag zur Veränderung der Beschäftigungslage leisten. Ich glaube, auch das ist inzwischen weitgehend unbestritten in diesem Land. Man sollte auch einmal davon ausgehen, daß wir die Arbeit zu sehr und die Güter zuwenig befrachten. Das ist einer der Gründe, warum zum Beispiel unter den Ministerpräsidenten - sozialdemokratischen, christlich-demokratischen und christlich-sozialen Kollegen - schon seit einigen Jahren die Frage der Mehrwertsteuererhöhung nicht mehr unter sozialpolitischen Gesichtspunkten diskutiert wird, sondern unter dem Gesichtspunkt der strukturellen Auswirkungen von Veränderungen zwischen direkter und indirekter Besteuerung und einer Verringerung der Arbeitskosten sowie einer Erhöhung der Kosten für Produkte. Das setzt allerdings voraus, daß man diese Strukturveränderungen auch zu diesen Zwecken einsetzt. Das ist nach wie vor umstritten. Darauf möchte ich nur hinweisen. Lassen Sie mich als drittes etwas zu den besonderen Problemen in Ostdeutschland sagen.
Das erste, was wir feststellen müssen, ist, daß durch die wachsende - erfolgreiche - Integration der ostdeutschen Teilwirtschaft und der westdeutschen Teilwirtschaft in eine gesamtdeutsche Wirtschaft die Möglichkeiten geringer geworden sind, in Ostdeutschland nachhaltig höhere Wachstumsraten zu erzielen als in Westdeutschland. Es ist außerordentlich schwierig, innerhalb einer Gesamtwirtschaft für die eine Teilwirtschaft Waschstumsraten von 6 bis 8 Prozent zu erzielen, wenn es in der anderen Teilwirtschaft nur 1 bis 2 Prozent sind. Die Feststellung im Jahreswirtschaftsbericht, daß wir für West und Ost im jetzt begonnenen Jahr mit rund 2,5 Prozent Wachstum rechnen können, bedeutet im Ergebnis, daß sich - in absoluten Zahlen ausgedrückt – das Bruttoinlandsprodukt in West und Ost wieder auseinanderentwickelt. Das Bruttoinlandsprodukt Ost wächst langsamer, weil die Basis in absoluten Zahlen niedriger ist als beim Bruttoinlandsprodukt West. Wenn das Bruttoinlandsprodukt insgesamt um 2,5 Prozent wächst, dann bedeutet das, daß im statistischen Mittel rund 1.000 DM pro Kopf der Wohnbevölkerung mehr an Wertschöpfung zur Verfügung stehen, und zwar real. Ich sage das deshalb, weil immer davon die Rede ist, man müsse die Nachfrageschwäche überwinden. Das Problem ist nicht, daß wir nicht genug produzieren, nicht genug volkswirtschaftliche Gesamtwertschöpfung betreiben, sondern das Problem ist, wie wir mit der zusätzlichen Wertschöpfung umgehen, wo wir sie hinlenken - ob wir sie in den staatlichen Bereich lenken, ob wir sie in den privaten Bereich lenken - und für welche Zwecke wir sie einsetzen. Wir werden als Bürger von allen Beteiligten aufgefordert, wir sollten mehr für die Altersvorsorge tun. Altersvorsorge bedeutet, daß die Bürger mehr sparen, also weniger ausgeben. Man kann das Geld nicht zweimal ausgeben. Wenn die Bevölkerung jetzt also im Blick auf eine ungewisse Zukunft in stärkerem Maße Kapital bildet, was an sich richtig ist, dann ist die Konsumfähigkeit entsprechend reduziert; es sei denn, wir entschließen uns, den Konsum durch Staatsverschuldung zu erhöhen. Dabei sind uns nicht durch die Währungsunion Grenzen gezogen.(Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag:
Plenarprotokoll 13/155 vom 31.01.1997
Seite: 13986
noch: Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf (Sachsen)
Unser Hauptproblem in Ostdeutschland sind nicht nur die hohen Lohnkosten, über die sattsam diskutiert worden ist und die in einem - von mir keineswegs begrüßten - spontanen Prozeß zum Teil extra legem, das heißt außerhalb der rechtlichen Regelungen, korrigiert wurden. Unsere Unternehmen haben noch immer erhebliche Managementprobleme. Ich glaube, es ist leicht, im Westen zu sagen, ihr müßt es nur machen wie wir, und dabei darauf zu verweisen, daß man heute etwas macht, das man über 30 Jahre gelernt hat. Es ist leicht, den Menschen in Ostdeutschland zu sagen: Warum schafft ihr das denn nicht so schnell? Das Sammeln von Erfahrungen kann man nicht beliebig beschleunigen, auch das Lernen kann man nicht beliebig beschleunigen. Der Export von Managern von West nach Ost ist erstens in großem Umfang nicht erwünscht und zweitens auch gar nicht möglich, weil wirklich gute Manager im Westen genauso knapp sind.(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das zweite Problem, das wir haben, ist ein zum Teil ärgerliches: Es ist der Marktzugang. Gerade im Lebensmittel- und im Veredelungsmarkt stellen wir fest, daß die Konzentration im Einzelhandel Marktzugangsbarrieren bewirkt, die viele unserer Unternehmen nicht überwinden können.(Beifall im ganzen Hause) Ein kleines Unternehmen kann de facto keine 500 000 oder 250 000 DM als Eintrittspreis und dann noch hohe Regal mieten zahlen, damit seine Waren an vernünftigen Plätzen untergebracht werden. Hier muß man immer wieder an die Verantwortlichen appellieren - nicht an die Spitzenleute, sondern an diejenigen, die einkaufen und die Regalplätze zuweisen -, dabei zu helfen, die Marktzugänge zu erleichtern. Schließlich - nur als Stichwort, weil das an anderer Stelle intensiver behandelt werden muß -: Wir brauchen eine Reform des Kapitalmarkts. Unser Kapitalmarkt ist nicht in der Lage, kleinen und mittleren Unternehmen Eigenkapital zur Verfügung zu stellen, selbst wenn sie es wollten, was ja auch noch ein Problem ist. Wir haben nur eine Börse für die großen Titel, für die institutionellen Anleger. Wenn es aber richtig ist, was wir zum Beispiel aus Silicon Valley, auch aus der jetzigen Entwicklung in Amerika, aber ebenfalls aus der Geschichte des Freistaates Sachsen im 19. Jahrhundert lernen können, nämlich daß die Erneuerung der Industriestruktur nicht von den großen Unternehmen ausgeht, sondern von den kleinen und mittleren, daß das Innovationspotential vor allem in denjenigen Unternehmen zu finden und zu entwickeln ist, die nicht bürokratisch daran gehindert sind, schnell zu reagieren, dann haben wir ein existentielles Interesse daran – nicht nur ein Interesse im Mittelstand, sondern ein gesamtwirtschaftliches Interesse -, die Eigenkapitalausstattung der neuen Unternehmen zu verbessern. In Amerika ist das möglich gewesen, sonst hätte es Silicon Valley nicht gegeben.(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) In Deutschland ist das bisher nicht möglich. Darunter leiden wir im Osten in ganz besonderem Umfang, weil wir nur mit kleinen und mittleren Unternehmen wiederaufbauen können, wenn der Osten nicht eine Landschaft der verlängerten Werkbänke und der Tochtergesellschaften der großen westlichen Unternehmen alleine werden soll. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Ich möchte zum Schluß sagen, daß die Beschäftigungspolitik, die unsere Daueraufgabe sein wird, ein hohes Maß an Regionalisierung braucht. Wir bemühen uns derzeit im Freistaat, in diesem relativ kleinen Territorium mit nur 4,7 Millionen Einwohnern, in fünf Regionen eine selbständige Beschäftigungspolitik zu betreiben, um auf diese Weise die örtlichen und regionalen Innovationspotentiale zu mobilisieren: die örtlichen und regionalen Kammern, die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Landräte und die Bürgermeister. Sie sind oft voller Ideen und Vorschläge dazu, was möglich ist, Ideen und Vorschläge, auf die zentralistische Behörden aus der Natur der Sache heraus nie kommen könnten. Deshalb möchte ich davor warnen, daß man jetzt die Flucht auf eine höhere Ebene antritt und sagt: Was uns in Deutschland nicht gelingt, wird uns in Europa gelingen. - Das Gegenteil ist richtig: Was uns auf der nationalen Ebene nicht ausreichend gelingt, kann uns nur dann gelingen, wenn wir dezentralisieren, die Verantwortung dorthin geben, wo die Menschen sind, und in einer koordinierten Form des Zusammenwirkens von Region, Nation und Europa zu neuen Lösungen kommen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD)