Karl Nolle, MdL

Berliner Zeitung, Ausgabe Nr. 261, Seite 05, 08.11.1999

"Gesundes, gutes Material" - Kinder als NS-Zwangsarbeiter für die Buna-Werke

Kurt Biedenkopfs Vater war technischer Leiter
 

"Es handelt sich bei den Kindern … um gesundes, gutes Material, von dem ein erheblicher Gewinn zu erzielen ist, wenn der arbeitsmäßige Ansatz mit dem richtigen Vorbedacht erfolgt."

BERLIN, im November. Der unbekannte Autor, dessen Unterschrift verblasst ist, hat wenig Sorgfalt auf das Abfassen seines Berichts verwandt. Tippfehler sind flüchtig mit dem Kugelschreiber korrigiert, fehlende Worte handschriftlich eingefügt. Formal korrekt ist der Briefkopf abgefasst – rechts oben stehen Ort und Datum: Schkopau, den 7.12.43; links oben die Absenderbehörde:

Berufserziehungsstätte, Eignungsuntersuchungsstelle. Der Titel des Berichts: "Anschreiben zur Grobausleseliste des Transportes russischer Kinder".

"Zur Untersuchung waren 17 Mädchen und 13 Jungen in den Altersgrenzen zwischen 9 und 14 Jahren erschienen", schreibt der Verfasser. Sein Fazit "aus Sicht des Psychologen": "Es handelt sich bei den Kindern … um gesundes, gutes Material, von dem ein erheblicher Gewinn zu erzielen ist, wenn der arbeitsmäßige Ansatz mit dem richtigen Vorbedacht erfolgt."

Im Seitenkopf stehen die Namen der Empfänger des "Gutachtens". Einer von ihnen ist der Leiter der Technischen Abteilung in Buna: "Herr Dir. Dipl.-Ing. Biedenkopf, C 37".

"Das ist mein Vater", sagt Kurt Biedenkopf.

Als Achtjähriger war der heutige sächsische Ministerpräsident 1938 mit seiner Familie aus Ludwigshafen nach Schkopau übergesiedelt. Der Vater, ein Ingenieur bei der I.G. Farben, sollte eine verantwortliche Position bei den Chemiewerken Buna übernehmen.

Es sei das erste Mal, dass er ein solches Dokument mit dem Namen seines Vaters in den Händen halte, sagt Biedenkopf vorsichtig. Man spürt, dass er nach Erklärungen sucht, nach Entschuldigungen. "Ich kann mir nicht vorstellen, warum mein Vater diesen Bericht bekommen haben soll", sagt Biedenkopf schließlich. "Er war doch technischer Leiter in Buna, hatte mit Personalfragen nichts zu tun." Vielleicht sei es nur ein Durchschlag, den sein Vater ungelesen abgeheftet habe. "Vielleicht hat er sich aber auch eingesetzt, dass diese Kinder in die Lehrwerkstatt kommen, weil sie für die harte körperliche Arbeit noch zu klein waren."

Die "Technische Abteilung" des Chemiewerks in Buna hat den Bericht des Psychologen am 10. Dezember 1943 erhalten. Das belegen der Eingangsstempel und eine Paraphe, die von Biedenkopf oder einem seiner Mitarbeiter stammt. Der Psychologe schreibt in seinem Bericht, er schließe einen Arbeitseinsatz der 9- bis 11-Jährigen vorerst aus, die Kinder seien "noch ausgesprochen zierlich und in der körperlichen Entwicklung kindlich". Auch die 12- bis 14-Jährigen wird man nur "in einer beschränkten Zahl von Tagesstunden, etwa 4–5 Stunden, beschäftigen können". Seine Empfehlung: "Von psychologischer Seite aus muss es für richtig gehalten und vorgeschlagen werden, dass man den Kindern zunächst einen geordneten Schulunterricht in russischer und deutscher Sprache und in sonstigen lebensnotwendigen Wissens- und Lerngebieten gibt." Ob das I.G.-Farben-Werk in Buna dem Vorschlag des Psychologen folgte, geht aus den überlieferten Dokumenten nicht hervor. Was aus den Kindern geworden ist, bleibt ungewiss.

Ihm sei nicht einmal bekannt gewesen, dass Kinder in Buna als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, sagt Kurt Biedenkopf. Er habe darüber nie mit seinem Vater geredet. Und dann spricht der 69-Jährige von damals: vom Vater, der "bekennende Kommunisten" geschützt habe, von der Schufterei auf den Rübenfeldern, zu der er und seine Freunde als 12-Jährige zwangsverpflichtet worden seien, von den Bombenangriffen auf das Chemiewerk. Und von den Panzern, die vor dem Garten der Familie in Schkopau standen und in Richtung Merseburg feuerten, wo die Amerikaner waren. "Ich war 15 Jahre alt damals, der Krieg ging zu Ende. Hätte es meinen Vater nicht gegeben, der mich vor einer Dienstverpflichtung bewahrte, wäre ich heute vielleicht nicht mehr am Leben."

Es seien vor allem diese Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, wenn er den Bericht an seinen Vater lese. Da entstehe ein ungewöhnlich komplexes Bild, das er nicht abschließend bewerten könne und wolle. "Natürlich denke ich nach, aber ich mag nicht spekulieren, ob und in welcher Weise mein Vater in Deportation und Zwangsarbeit einbezogen war", sagt Kurt Biedenkopf. "Ich müsste ihn dazu befragen. Doch das kann ich nicht, denn mein Vater lebt nicht mehr."

Der Bericht des Psychologen ist in den 70er-Jahren im Schkopauer Archiv des VEB Chemische Werke Buna gefunden und an die Stasi weitergereicht worden. Das Mielke-Ministerium sammelte damals Material, um den Anteil der Deutschen Bank, die mit der I.G. Farben während des Krieges wirtschaftlich verwoben war, an der Ausbeutung von Zwangsarbeitern zu dokumentieren. Deshalb war der Bericht aus den Buna-Werken über die "Grobauslese" des russischen Kindertransports für die Stasi ein interessantes Dokument. Ob das MfS den Namen Biedenkopf auf dem Schreiben übersehen hat, lässt sich nicht nachvollziehen. Üblicherweise war die Stasi bei westdeutschen Politikern stets auf der Suche nach "braunen Flecken" in deren Vergangenheit, um die Bundesrepublik in der internationalen Öffentlichkeit als Hort der Faschisten zu geißeln. Vielleicht aber hatte sich beim MfS in diesem Fall auch die Vernunft mit der Überlegung durchgesetzt, man könne einen Nachgeborenen nicht für die vermeintliche Schuld seiner Eltern verantwortlich machen.

Es sei "ein Glück", sagt Kurt Biedenkopf, dass immer wieder solche Dokumente wie der Bericht an seinen Vater an die Öffentlichkeit kommen. "Sie zeigen denen, die mit dem Geschehenen nichts zu tun haben wollen und alle Verantwortung den bösen Nazis zuschieben, dass eine solche Form der Aufarbeitung von Vergangenheit nicht funktioniert." Und die Unternehmen, die sich heute einem gemeinsamen Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter verweigern, würden ausblenden, "dass sich ihre Vorgängerfirmen, deren Namen sie heute tragen, meist ohne große Gegenwehr in das Herrschaftssystem der Nazis hineinziehen ließen", sagt Kurt Biedenkopf. Vielleicht hätten die einzelnen Firmen damals Auschwitz nicht verhindern können, "sie haben es aber auch nicht versucht. Das ist die Schuld der deutschen Privatwirtschaft."

Vor einiger Zeit habe er bei einem Kongress in Dresden, der sich mit dem Schicksal jüdischer Kinderärzte im Dritten Reich befasste, diese Überlegungen zu Schuld und Verantwortung schon einmal dargelegt, sagt Biedenkopf. Jetzt aber, wo er den Bericht an seinen Vater in den Händen halte, würden die "abstrakten Überlegungen" plötzlich konkret. "Wir tragen eine Last", sagt Kurt Biedenkopf, "und wir tragen sie alle."

(Andreas Förster)

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