Berliner Zeitung, 04.09.2001
Der oberste Herdenführer
Kommentar von Christian Bommarius
Das aktuelle Bild vom idealen Parlamentarier wurde bereits 1873 entworfen: "Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet; sie weiß nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig." Zuzugeben ist, dass Friedrich Nietzsche bei diesen Worten ("Vom Nutzen und Nachteil der Historie") nicht an den Bundestagsabgeordneten dachte, sondern an den Unterschied von Mensch und Tier, den er in der Vergesslichkeit des Tieres fand. Doch ist andererseits auch nicht zu übersehen, dass Nietzsche sich damit als Vorläufer seines großen Nachfahren Franz Müntefering erwies, des obersten Herdenführers und Generalsekretärs der SPD. Denn sollte jemand Müntefering fragen, was nach seinem Verständnis ideale Abgeordnete von Menschen unterscheidet, dann müsste er - sollte er sich zur Wahrheit bequemen - erwidern: ihre Vergesslichkeit.
Sie sollen vergessen, dass das Grundgesetz ihnen versichert, an "Aufträge und Weisungen nicht gebunden" zu sein und "nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38 Abs. I). Sie sollen die Geschäftsordnung des Bundestags (§ 13 Abs. I) vergessen: "Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen." Sie sollen vergessen, dass der Fraktionszwang eine Lüge der Fraktionsgeschäftsführer ist und das Grundgesetz ihn verbietet. Das alles muss der (sozialdemokratische) Parlamentarier vergessen. Wer das Vergessen vergisst - wie vor wenigen Tagen 19 SPD-Abgeordnete in der Mazedonien-Entscheidung -, den bestraft das gute Gedächtnis der SPD-Parteitage bei der anstehenden Aufstellung der Bundestagskandidaten, denn den Delegierten "ist das Verhalten der einzelnen Abgeordneten präsent" (Müntefering).
Wenn Vergessen Pflicht wird, dann ist Erinnerung Makulatur. Anderenfalls müsste sich in diesen Tagen doch jemand an die Rede der anständigen Liberalen Hildegard Hamm-Brücher im Oktober 1982 erinnern, mit der sie sich im Bundestag der "Wende" ihrer Partei gegen den damaligen Koalitionspartner - die SPD - widersetzte: "Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen ., wie wenig überzeugend es für unsere Bürger ist, wenn in unserem Parlament immer nur vorgestanzte Partei- und Fraktionsmeinungen vom Blatt gelesen werden." Frau Hamm-Brücher hatte offenbar übersehen, dass es im Parlament nicht um die Bürger geht, sondern um die Interessen der Bundesregierung, mit deren Durchsetzung bekanntlich die Generalsekretäre der Koalitionsparteien betraut sind.
Es muss unentschieden bleiben, ob Münteferings blasierte Ignoranz oder seine Aufrichtigkeit die größere Aufmerksamkeit verdient. Die Ignoranz ist jedenfalls erheblich. Seine Behauptung, bei den Gegnern des Mazedonien-Einsatzes stelle sich die Frage, "ging es da um Gewissen oder ging es da um Argumente", ist ein intellektueller Offenbarungseid. Er scheint nicht damit zu rechnen, dass das Gewissen ein gutes Argument sein kann - zumal in der Frage eines Militäreinsatzes.
Andererseits verdient - gerade bei einem Herrn wie "Münte" - die Ehrlichkeit besondere Beachtung, mit der hier eine seit langem und von allen Parteien gepflegte Praxis zur Sprache kommt. Denn Müntefering hat nichts Anderes getan, als die ungeschriebene Regel, wonach das freie Mandat im Grundgesetz gilt, im Bundestag aber der Fraktionszwang, explizit auf den Einzelfall anzuwenden. Das in Jahrzehnten gewachsene Selbstverständnis der Parteien betrachtet den Abgeordneten als Angestellten, der seinen Auftrag, Vertreter des ganzen Volkes zu sein, durch seinen Dienst für Partei und Fraktion erfüllt. Da er nach diesem Verständnis alles - den Status und die Diäten, die Freifahrkarte der Deutschen Bahn und die Bierabende im Wahlkreis - nur der Partei, nicht den Wählern zu verdanken hat, ist er auch nur der Partei zur Dankbarkeit verpflichtet, dem Wähler höchstens insofern, als dieser zur Wahl benötigt wird und damit die Voraussetzung zur Dankeserweisung liefert. Was bleibt dann vom freien Mandat? Kaum mehr als eine abfällige Bemerkung des gelernten kaufmännischen Angestellten Müntefering: "Zur parlamentarischen Demokratie gehört, dass da nicht lauter freie Unternehmer im Deutschen Bundestag sitzen."
Zu ihr gehört aber auch ein gutes Gedächtnis - wenn schon nicht der Abgeordneten, dann hoffentlich der Wähler.
(Christian Bommarius)