Frankfurter Rundschau, 04.09.2001
Peitschenschwingerei
Entscheidungsspielräume im flachen Wasser?
Der parlamentarische Entscheidungsspielraum wird angesichts europäischer und transatlantischer Bündnisverpflichtungen sowieso schon enger - und Münteferings Disziplinierungsversuche sind kein Weg, diese Situation zu verbessern
Unbestreitbar gerät der Bundestag angesichts europäischer Übereinkünfte und transatlantischer Bündnisverpflichtungen zunehmend in flacheres Wasser, was seine Entscheidungsspielräume angeht. Mit den Verträgen zur europäischen Integration berauben sich die Parlamentarier selbst eines Teils ihrer nationalen Souveränität. Das sollte für niemanden eine Überraschung darstellen, und trotzdem gibt es deshalb immer wieder Missverständnisse und Ärger. Noch gilt die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, und folglich sind die Mitglieder des Parlaments "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Von den Differenzierungen des SPD-Generalsekretärs Franz Müntefering ist im Grundgesetz nicht die Rede. Nicht von Sach- und Gewissensentscheidungen und nicht davon, dass eine Partei- oder Fraktionsführung, auch keine Regierung, diese Einteilung für die Parlamentarier vornehmen kann. Nach Sachgründen, so hofft der Bürger, wird ja wohl ohnehin entschieden, und dem demokratischen Selbstverständnis tut es allemal gut, wenn man darauf bauen kann, dass die Mitglieder des Bundestages keine Befehlsempfänger sind, sondern ihrem Gewissen verpflichtet.
Bei Münteferings Disziplinierungsversuchen stößt noch etwas anderes sauer auf. Die Drohkulisse: wer nicht kuscht, wird von den Wahllisten vertrieben, und die Philosophie, der Partei verdanke man alles. Diese Peitschenschwingerei ist vordemokratisch und kein Weg, wie man mit enger werdendem parlamentarischem Entscheidungsspielraum umgehen kann.
(Jochen Siemens)