Es war einmal ein Land, das wurde das "Rote Königreich" genannt. Die Industrie florierte, die Hauptstadt wurde gerühmt für Kunst, Kultur, die prächtigen Bauten. Selbst der Monarch war beliebt.
Das neue Jahrhundert war noch jung, als die Bürger den Reichstag im fernen Berlin wählten. Die stärkste politische Kraft erhielt 58,8 Prozent der Stimmen. 22 von 23 Abgeordneten stellte sie. Bei der Landtagswahl schnitt sie ähnlich gut ab.Das Land hieß Sachsen, man schrieb das Jahr 1903 und der Name der siegreichen Partei lautete: SPD.106 Jahre nach dem historischen Wahltriumph von 1903 stehen die Sozialdemokraten im Freistaat vor einem neuen Urnengang. Am kommenden Sonntag wird der Landtag in Dresden neu gewählt, ein SPD-Sieg ist undenkbar: Nirgendwo in Deutschland steht die SPD schwächer da als im einstigen Stammland.Heimliche Vorfreude auf 15 Prozent
Umfragen sehen die SPD zwischen elf und 14 Prozent. 14 Prozent, das wäre ein Wert, über den sich nicht wenige Genossen freuen würden. Mehr sei einfach nicht drin, heißt es hintervorgehaltener Hand.Dass es immer schlimmer gehen kann, mussten sie im Jahre 2004 erfahren. Damals, bei der letzten Landtagswahl, gaben lediglich 9,8 Prozent der Bürger zwischen dem Vogtland und der Oberlausitz der SPD ihre Stimme. Die rechtsextreme NPD erhielt nur unwesentlich weniger, im Landesparlament sind beide Fraktionen fast gleich stark.
Es war ein Desaster dank des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder: Seine Agenda-Politik trieb viele Wähler zur PDS und zur NPD, die Sachsen-SPD schrumpfte zur Kleinpartei.
Die Aussichten, wieder Volkspartei zu werden oder gar zu historischer Stärke zu kommen, sind gering: "Die sächsische SPD kommt auf keinen grünen Zweig", sagt Politikwissenschaftler Eckhard Jesse zu sueddeutsche.de. Der Chemnitzer Professor hält das Potential der SPD bei der anstehenden Wahl bei 15 Prozent.SPD-Landeschef Thomas Jurk, der SPD-Spitzenkandidat, sagt zu sueddeutsche.de: "Ich bin Realist: Bei dieser Wahl liegt unser Potential noch unter 20 Prozent."Die Hochburg ist zur politischen Diaspora geworden.
Eindrucksvoll bleibt die Vergangenheit der Sozialdemokraten in Sachsen: Hier wuchs dank der frühen Industrialisierung die Arbeiterbewegung schon Ende des 19. Jahrhunderts prächtig. In Leipzig wurde 1863 der Allgemeine Deutscher Arbeiterverein gegründet - die erste Keimzelle der Partei.In Sachsen errangen die sozialdemokratischen Säulenheiligen Wilhelm Liebknecht und August Bebel die ersten Parlamentssitze für eine Arbeiterpartei: 1867, vier Jahre vor Gründung des Kaiserreiches, zogen die beiden in den Norddeutschen Reichstag ein.
Es folgten Wahlerfolge wie der von 1903; doch zum durch und durch "Roten Sachsen" avancierte das Land erst nach dem Ersten Weltkrieg: Nachdem der letzte sächsische König Friedrich August III. abgedankt hatte - das originelle Zitat "Machd doch eiern Drägg alleene!" ist wohl dazugedichtet - übernahmen die Sozialdemokraten das Regieren. Sie machten Sachsen zum "Freistaat", zwischen 1919 und 1929 stellten sie fünf Ministerpräsidenten.Auch nach NS-Diktatur und Weltkrieg war das sozialdemokratische Wurzelwerk noch intakt: Bis Oktober 1945 ließen sich 220.000 Mitglieder in Sachsen registrieren. Zum Vergleich: Heute haben etwas mehr als 500.000 Menschen das SPD-Parteibuch - allerdings bundesweit.Die Zwangsvereinigung der SPD mit den Kommunisten und die Gründung der DDR beendete die sozialdemokratische Ära. Nun gab es nur noch die SED - und die willfährigen Blockparteien wie die Ost-CDU.
Nach der Wende 1989 erwarteten viele eine Renaissance der SPD in Sachsen. Doch 40 Jahre dunkelrote Parteidiktatur zeigten Wirkung: "Die Traditionslinien sind völlig abgerissen", sagt Politikforscher Jesse. Nach der Wiedervereinigung sei alles Linke abgelehnt worden. Im Herzland der friedlichen Revolution wurde nicht mehr groß zwischen SED und SPD unterschieden.Man kannte sie auch nicht: Sie musste erst neu gegründet werden. Die politische Konkurrenz von CDU und FDP konnten auf die vorhandenen Strukturen und das Personal ihrer Schwesterparteien in der DDR, den "Blockflöten" zurückgreifen - und sie taten es gerne.
Zur Malaise der Sachsen-SPD kam die personelle Schwachbrüstigkeit: In den eigenen Reihen verfügte man über manch klugen Kopf, aber keinen mit Charisma. Der West-Import Anke Fuchs sprang kurzfristig als Spitzenkandidatin ab. Bei der CDU hingegen engagierte sich ebenso ein Wessi, der in den folgenden Jahren Sachsen zu einem Stammland seiner Partei machen sollte: Kurt Biedenkopf.Als erster Ministerpräsident erkannte er früh, wie man eine Hausmacht begründet: Biedenkopf machte seine Herkunft vergessen, indem er sich als Landesvater in Szene setzte. Eine "Ministerpräsidentendemokratie" seien die Jahre von Biedenkopf gewesen, sagt der Duisburger Politikprofessor Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit sueddeutsche.de.
Ostdeutsches Bayern
Geschickt setzte Biedenkopf gleichzeitig auf ein starkes Identitätsbewusstsein. Sachsen, das waren die Aufgeweckten, die Ersten im Osten, suggerierte der CDU-Mann. Nach 40 Jahren Sozialismus fühlte man sich gerne wie das ostdeutsche Bayern: ein bisschen eigensinnig, traditionsbewusst, stolz. Und konservativ.Die Rechnung ging auf: Die Union holte absolute Mehrheiten. In der Ära Biedenkopf avancierte die CDU in Sachsen zur Staatspartei. Der Professor aus dem Westen war nun "König Kurt". Der Christdemokrat habe die Sachsen erfolgreich umgarnt, räumt auch Thomas Jurk ein.
Tillichs Fragebogen-Gewürge - folgenlos
Die Wahlarithmetik brachte die SPD dennoch an die Macht - durch den Zuwachs von NPD und Linkspartei-Vorgängerin PDS war nur eine große Koalition möglich.So wurde Spitzenkandidat Thomas Jurk, der das schlechteste Landtagswahlergebnis der SPD aller Zeiten eingefahren hatte, Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident.Jurk, ein bodenständiger und witziger Görlitzer, galt in den vergangenen Jahren als "friedlicher Partner" am Kabinettstisch. Das blieb er auch weitgehend, als Ministerpräsident Milbradt in der Affäre um die Sachsen-LB stürzte. Jurk möchte nun nach der Wahl die Koalition mit der CDU fortsetzen. Er verspricht Bildung und ein soziales Sachsen.
Vielleicht hackt er aus Harmoniegründen nicht auf Ministerpräsident Stanislaw Tillich herum, als er sich in seiner DDR-Vergangenheit zu verheddern drohte - ein Fehler, meint Politikwissenschaftler Jesse: "Die CDU habe, außer zwei Westdeutschen, niemanden im Kabinett, der keine Blockflöte war", sagt der Forscher. Es sei ein Phänomen, dass das niemand zur Sprache brächte. Jurk selbst habe vor 1989 nirgendwo mitgemacht: "Mit diesem Pfund könnte er wuchern", meint Jesse.Sein Kollege Korte widerum sieht es anders. Er verweist darauf, dass die Ostdeutschen einen anderen Blick auf die Vergangenheit hätten: "Man will sich ja auch die eigene Biographie nicht schlechtreden". Deshalb würde dem farblosen Amtsinhabers Tillich auch sein Fragebogen-Gewürge nicht wirklich schaden. Es reicht, wenn er sich an das Biedenkopf’sche Erfolgsrezept hält: einfach die stolze sächsische Seele streicheln. Auf Wahlplakaten steht neben seinem Konferei in dicken Lettern: "Der Sachse".
Sein SPD-Rivale Jurk sagt zu sueddeutsche.de mit dem Blick die Causa Tillich, er wolle niemandem seine DDR-Biographie vorwerfen. "Verdammen" wolle er den Ministerpräsidenten nicht, auch wenn er in der DDR "offenbar Karriere machen" wollte: "Wir haben seit 1990 der CDU ihre Vergangenheit vorgehalten - die Leute haben sie trotzdem gewählt."Und so bleiben der Herr Minister und seine Genossen handzahm vor dieser Wahl, die der einst so stolzen Sachsen-SPD einen kleinen Zuwachs bringen wird.Sein schönes Amt ist Jurk vermutlich dann trotzdem wieder los: Die Umfragen prognostizieren eine Mehrheit für CDU und FDP am Sonntag.
Von Oliver Das Gupta