Karl Nolle, MdL

Frankfurter Rundschau, 25.09.2009

Der störrische Leibwächter Melancholie

Porträt Angela Merkel
 
Angela Merkels Beliebtheit ist so groß, dass sie einem schon langsam unheimlich wird. Mit Worten kommt man da nicht weit, es bedarf schon Zahlen, um sich dem ganzen Ausmaß zu nähern. Weit über fünfzig Prozent aller Deutschen würde zum Beispiel gerne einen Kaffee mit Angela Merkel trinken, so unglaublich beliebt ist sie.

Und nicht auszudenken, wie diese Zahl aussähe, wenn in der Frage geklärt wäre, wer den Kaffee bezahlt, wie sie aussähe, wenn man das Getränkespektrum um Tee oder gar alkoholische Getränke erweiterte, wie sie aussähe, wenn nicht von einem Kaffee die Rede wäre, sondern von einem Abendessen, von einem gemeinsamen Wochenende in der Uckermark, einem ausgedehnten Strandurlaub.

Auch ich gehöre zu diesen weit über fünfzig Prozent, obwohl ich bislang gar nicht wusste, dass Angela Merkel auch bei mir beliebt ist. Da habe ich mir wohl lange etwas vorgemacht. Denn wenn heute ihre Büroleiterin bei mir anriefe, um mich spontan zu einem Kaffeetrinken mit Angela Merkel einzuladen, in ihrem Terminkalender sei da plötzlich ein Fensterchen frei geworden, ich sagte ohne mit der Wimper oder gar mit dem ganzen Körper zu zucken ja.

Wir würden uns in einem urigen Café treffen. Angela Merkel mag urige Cafés, das wissen alle, und gerade dieses Urige lieben alle so an ihr. Sie wäre wahrscheinlich schon vor mir da, säße allein an einem Ecktisch und winkte mir schüchtern zu, wenn ich das urige Café betrete. Denn im Grunde ist sie ja schüchtern, auch das wissen alle und lieben es wie verrückt.

Ein entschlossener Händedruck

Wir würden uns zur Begrüßung die Hand geben, und ihr Händedruck wäre dann überraschend fest und entschlossen, obwohl das eigentlich nicht überraschen darf, denn es wissen auch alle, dass Angela Merkel bei aller Schüchternheit furchtbar entschlossen sein kann. Und wenn einem da nicht sofort Beispiele einfallen, liegt es daran, dass Angela Merkel ihre Entschlossenheit nicht an irgendwelche großen Glocken hängt, dafür ist sie viel zu bescheiden, ihre Bescheidenheit ist sprichwörtlich und auch unwahrscheinlich beliebt.

Deshalb müssen Nuancen reichen, Andeutungen, wie ein entschlossener Händedruck, wie ein entschlossenes Bestellen von Kaffee und Kuchen, wie ein entschlossenes Versenden einer letzten SMS, alle wissen ja, wie viele SMS Angela Merkel am Tag versendet, fast so viele wie ein Teenager, und dieses Jugendliche, fast Kindliche an ihr lieben alle ganz besonders.

Angela Merkel würde natürlich bestens vorbereitet auf unser Kaffeetrinken sein. Ihre Kompetenz in allen Bereichen ist fast noch sprichwörtlicher als ihre Bescheidenheit. Sie würde, ohne in ihre Unterlagen sehen zu müssen, wissen, wie viele Löffel Zucker ich in den Kaffee nehme. Sie würde, wahrscheinlich mithilfe einer kleinen Onlinedurchsuchung, meinen Musikgeschmack kennen und die Titel der von mir zuletzt bestellten Bücher, das ist nützlich für den Smalltalk, das bricht das anfängliche Eis, obwohl es mit Angela Merkel ohnehin kaum Eis zum Brechen gibt.

"Den Hosenanzug hat sie selbst genäht"

Das liegt an ihrer herrlich direkten Art, die längst ein Sprichwort in allen Sprachen dieser Welt ist. Und vom Geheimdienst hätte sie sich ein übersichtliches Dossier über meine Freunde und Bekannten zusammenstellen lassen, damit wir ein wenig tratschen können, denn auch das macht Angela Merkel zur beliebtesten Regierungschefin Deutschlands, dass man mit ihr jederzeit gepflegt tratschen kann. Ich kenne da keine genauen Zahlen, aber ich glaube, zwei Drittel aller Deutschen wünschen sich Angela Merkel zur besten Freundin.

Und während Angela Merkel und ich so plaudern, höre ich das bewundernde Getuschel von den Nachbartischen: "Den Kaffee hat sie sogar hier selbst gekocht." "Den Hosenanzug hat sie selbst genäht." "Die Zähne hat sie selbst geputzt." Das stimmt alles, weil Angela Merkel nämlich noch alles selbst macht, weil sie bodenständig ist, weil sie auf dem Teppich geblieben ist, in ganz Europa findet sich kein Teppich, auf dem mehr geblieben wurde, und mit jeder Sekunde auf dem Teppich wächst ihre Beliebtheit weiter.

Draußen vor dem Café zerrt der Herbstwind an den Blättern, später setzt leichter Regen ein, und umso gemütlicher ist es, hier mit Angela Merkel am Cafétisch zu sitzen. Ihre Leibwächter hat sie unter irgendeinem Vorwand weggeschickt, das macht sie immer, sie will keine Leibwächter um sich haben. Sie will einfach in Ruhe mit einem normalen Menschen aus dem Volke wie mir über seine Sorgen und Nöte reden können. Und ich fange an, Angela Merkel meine Sorgen und Nöte zu erzählen.

Ich öffne mich vollkommen, Sachen kommen da zur Sprache, die ich niemandem zuvor anvertraut habe, das liegt daran, dass Angela Merkel so gut zuhören kann, sie ist weltweit eine der führenden Zuhörerinnen, bei keinem Kanzler vor ihr konnte man sich so ganz und gar fallen lassen. Und Angela Merkel nickt die ganze Zeit, sie ist auch eine der weltweit führenden Nickerinnen, und sie macht sich ausgiebig Notizen in ihr kleines Buch, auf dessen Umschlag eine Fahrrad fahrende Schildkröte abgebildet ist.

Und dann sagt sie, dass sie meine Sorgen und Nöte ernst nehme, denn sie nimmt alles ernst, besonders die Sorgen und Nöte, und sie verspricht mir, sich in der nächsten Legislaturperioden ganz besonders um meine Sorgen und Nöte zu kümmern. Gerade mit der FDP sehe sie, was meine Sorgen und Nöte betreffe, große Übereinstimmung, und dabei lächelt sie etwas verunglückt, so wie nur Angela Merkel verunglückt lächeln kann.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es nicht gerade leicht ist, die Kanzlerin in den Arm zu nehmenSelbst ihr verunglücktestes Lächeln ist beliebter als sämtliche geglückten von allen anderen Menschen zusammengerechnet, und ich schaue Angela Merkel dankbar an, und der bestellte Kuchen wird endlich gebracht. Und für einen Moment glaube ich, dass alles gut werden kann, dass wir tatsächlich die Kraft haben, wofür auch immer, für einen Moment glaube ich, glücklich zu sein.

Wenn da nicht Angela Merkels Melancholie wäre. Diese Melancholie, die sie stets umgibt wie ein besonders aufmerksamer Leibwächter. Es ist zwar die beliebteste Melancholie der Republik, aber dennoch bricht es mir nun hier am Cafétisch fast das Herz, Angela Merkel so teilnahmslos in ihrem Kuchen herumstochern zu sehen.

Sie mag keinen Kuchen, das wissen doch alle, sie backt halt ab und zu welchen. Sie mag auch keine Politik, sie macht halt ab und zu welche, das sind ihre kleinen Marotten, die verzeiht man ihr gern. Und sie hat sich bei beidem doch auch immer besser im Griff, Kuchen und Politik unterlaufen ihr immer seltener, aber die Melancholie bleibt und scheint beinah so erschreckend stetig zu wachsen wie ihre Beliebtheit.

Wunderbar klar gezeichnete Schaltkreise

Daran ändern auch ihre trockenen Witze nichts, auf die alle immer so begierig warten. Um Angela Merkels Mutterwitz beneidet uns die ganze Welt, und gerade ihr Mutterwitz macht sie ja zur beliebtesten Kanzlerin seit Inge Meysel, aber selbst der vermag es nicht, den störrischen Leibwächter Melancholie zu verscheuchen, der verdeckt ihn nur kurz, und wenn das Lachen dann ausklingt, ist alles noch trostloser als zuvor.

Irgendwann stellt Angela Merkel das Herumstochern ein und schiebt ihren Kuchenteller weg, als habe sie mit ihm nichts zu tun. Ob ich sie kurz entschuldigen würde, fragt sie, steht auf und geht zur Toilette, und ich versuche mich noch zu beherrschen, werfe dann aber doch heimlich einen Blick in ihr kleines Buch mit der Schildkröte. Ich will unbedingt wissen, was sie sich während unseres Gesprächs alles notiert hat, aber ich sehe nur Schaltkreise. Wunderbar klar gezeichnete Schaltkreise, das ganze Buch ist voll mit ihnen, mit Hunderten davon, vielleicht sogar mehr.

Ganz anschaulich und elementar mit Stromquelle und Stromindikator und Wechselschalter und Widerstand, es sind die vollkommensten Schaltkreise, die ich je gesehen habe, und als Angela Merkel zurück kommt, stehe ich auf und will sie in den Arm nehmen, zögere dann aber doch, denn keine Umarmung wäre so vollkommen und elementar wie ihre Schaltkreise. Und so stehen wir uns nur unschlüssig gegenüber, die Arme halb erhoben, den Blick halb gesenkt.

Blick ins Leere

Draußen ist es längst dunkel. Dass ich langsam mal los müsste, sage ich, und dass sie doch sicher auch noch andere Termine habe, und Angela Merkel schaut mich erschrocken an. Ja, ja, jede Menge andere Termine habe sie noch, viel zu spät dran sei sie schon, und wir verabschieden uns verlegen aber herzlich, diese besondere Mischung beherrscht nur sie.

Die Abendluft ist kalt, fast schon winterlich, der Nieselregen brennt auf der Haut. Durchs Fenster schaue ich noch einmal ins Café. Angela Merkel hat sich wieder hingesetzt, die Hände auf der Tischplatte gefaltet, den Blick ins Leere gerichtet. Ich sehe, wie die Kellnerin sie etwas fragt, aber sie scheint es gar nicht zu hören.

Minutenlang sitzt sie so da, dann zieht sie ihr Telefon aus der Tasche und fängt an, eine SMS zu tippen, ihr Daumen springt über die Tastatur, unstet und ausdauernd, als habe er dort irgendwo etwas sehr kleines und sehr wichtiges verloren.
Von Tilman Rammstedt

Tilman Rammstedt wurde 1975 in Bielefeld geboren und studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Edinburgh, Tübingen und Berlin. Er ist Texter und "schlechtester Musiker" bei der Gruppe "Fön" und ständiges Mitglied der Lesebühne "isch & Ferse". 2001 war er Preisträger des Open Mike. Tilman Rammstedt lebt in Berlin.

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