Karl Nolle, MdL

spiegel.online.de, 19:32 Uhr, 29.09.2009

Nach Wahldesaster: Steinmeier drohte Genossen mit Rückzug

"Mehrere Teilnehmer verweisen auf Wahlanalysen, nach denen rund Zweidrittel der Wähler, die die SPD am Sonntag nicht gewählt haben, dies wegen der Hartz-Gesetze und der Rentenpolitik taten."
 
Der Druck war zu groß: Nach dem 23-Prozent-Debakel deutet SPD-Parteichef Müntefering nun seinen Rückzug an, in 14 Tagen soll ein neues Personaltableau stehen. Ob Frank-Walter Steinmeier sein Nachfolger wird, ist ungewiss - im Präsidium drohte er indirekt mit Rückzug.

Berlin - Ihm selbst, dem SPD-Parteichef, sieht man die Anstrengung nicht an. Dass das ziemlich zermürbende Sitzungen gewesen sein müssen in den vergangenen Stunden, lässt sich höchstens am Gesicht von Franz Münteferings Sprecher ablesen. Aschfahl steht dieser am Pult, die Lippen blau, als sei er gerade stundenlang in einem Eisbecken geschwommen.

Und Müntefering? Er wirkt an diesem Tag eins nach dem historischen Niederschlag namens Bundestagswahl 2009 aufgeräumt wie selten in den letzten Monaten. "Intensive" Beratungen seien das gewesen in Präsidium und Parteivorstand, erklärt er im Atrium des Willy-Brandt-Hauses. Die Ursachen für das 23-Prozent-Debakel vom Sonntag seien erörtert worden. Besonders intensiv, und das überrascht kaum, habe man über die vom linken Flügel ungeliebten Sozialreformen und die Rente mit 67 gesprochen. Am Programm oder am Kandidaten habe das Desaster zwar nicht gelegen, aber irgendwann im Laufe der letzten elf Jahre Regierungsarbeit müsse wohl der Kontakt zum Wähler verloren gegangen sein. Jetzt gelte es, den "Wiederaufstieg zu organisieren", sagt Müntefering.

Der Wiederaufstieg der SPD, er wird ohne Müntefering stattfinden, das ist nach diesem Montag klar. Etliche Teilnehmer machen in den hitzigen Gremiensitzungen indirekt deutlich, dass sie ihn als Hauptverantwortlichen für das Ergebnis vom Sonntag sehen. Manche, wie Juso-Chefin Franziska Drohsel, legen ihm gar einen sofortigen Rücktritt nahe.

Daran, das betont Müntefering anschließend ausdrücklich, denke er zwar nicht. "Ich habe deutlich gemacht, dass ich als Parteivorsitzender um die Verantwortung weiß und es für völlig falsch hielte, jetzt wegzulaufen." Aber richtig lange wird es auch nicht mehr dauern, bis er sich zurückzieht, das lässt er anklingen. Spätestens in 14 Tagen werde ein "endgültiges Tableau" stehen, mit dem die SPD ihre personelle und inhaltliche Neuaufstellung beginne, so Müntefering. "Sie können davon ausgehen, dass sie nahe an der Wahrheit sind", sagt Müntefering auf die Frage, ob man von seinem Abschied ausgehen könne.

Neues Personal und inhaltlicher Schwenk sollen SPD aus dem Tief führen

Ein neues Personaltableau soll es also geben, gesteuert von Müntefering, vorgeschlagen vom Parteivorstand für den Parteitag Mitte November. Dass nach dem Sonntag in der Parteispitze nicht alles so bleiben kann wie es ist, ist wenig überraschend. Nicht nach diesem Ergebnis. 23 Prozent sind das eine. Andere Details sind erschreckender.


Aus Berlin zum Beispiel. Dort haben die Sozialdemokraten rund 14 Prozent verloren, so viel wie nirgends sonst in der Republik, weshalb es leicht skurril erscheint, dass sich ausgerechnet der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit seit Sonntag als neuer starker Mann in der SPD in Stellung bringt. In der kommenden Legislaturperiode wird die neue Bundestagsfraktion 74 Abgeordnete weniger haben. Unter denen, die es nicht geschafft haben, finden sich vor allem prominente Pragmatiker wie der bisherige Fraktionsvize Klaas Hübner, die Haushaltsexpertin Nina Hauer, oder Ute Berg, die erst vor einem halben Jahr zur wirtschaftspolitischen Sprecherin gekürt worden war.

Wer künftig wo im Führungszirkel der Partei zu finden ist - darüber steht bisher nur folgendes fest: Frank-Walter Steinmeier soll am Dienstag von der Bundestagsfraktion zum Nachfolger von Peter Struck gewählt werden und fortan den Oppositionsführer spielen. Das trauen ihm manche in der Partei zwar nicht richtig zu, gewählt wird er wohl dennoch, da er als einziger Kandidat gilt, der flügelübergreifend durchsetzbar ist. Thomas Oppermann, das scheint ebenfalls sicher, dürfte Parlamentarischer Geschäftsführer bleiben. Die Stellvertreterriege an der Parteispitze könnte zudem von drei auf fünf erweitert werden, eingebunden werden soll dann auch Hannelore Kraft, die Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, die 2010 eine wichtige Landtagswahl zu bestehen hat.

Wer Münteferings Nachfolger werden wird, ist indes offen und dürfte vor allem damit zusammenhängen, wie sich die Partei inhaltlich neu ausrichten wird. Der Druck, die Sozialpolitik neu und linker auszurichten, speziell die Reformen der Agenda 2010 von Gerhard Schröder noch weiter nachzubessern, womöglich sogar die Rente mit 67 auf den Prüfstand zu stellen, wird in den kommenden Tagen weiter wachsen. Allein schon aus taktischen Gründen: Vielen Sozialdemokraten gelten diese Korrekturen als Voraussetzungen für eine Annäherung an die Linkspartei, mit der die SPD 2013 endlich wieder eine Kanzleroption erhalten soll.

Steinmeier droht indirekt mit Rückzug

Den Wunsch nach sozialpolitischer Veränderung bekommen Steinmeier und Müntefering am Montag sowohl im Präsidium als auch im Parteivorstand zu spüren. Praktisch alle Redner sprechen mehr oder weniger deutlich über die "Gerechtigkeitslücke" und das "Glaubwürdigkeitsproblem" der Partei. Mehrere Teilnehmer verweisen auf Wahlanalysen, nach denen rund Zweidrittel der Wähler, die die SPD am Sonntag nicht gewählt haben, dies wegen der Hartz-Gesetze und der Rentenpolitik taten.

Die Wortbeiträge sind offenbar derart konkret, dass Steinmeier nach Informationen von SPIEGEL ONLINE an die Präsidiumsmitglieder eine indirekte Drohung loslässt. Er stehe nur unter bestimmten Voraussetzungen für Spitzenämter in der SPD zur Verfügung. Wenn die Partei Reformen zurückdrehen wolle, die er entwickelt und eingeführt habe, dann sei er nicht der richtige Mann dafür. Bis hierhin und nicht weiter - so das Signal des 53-Jährigen an die murrenden Genossen.

Dabei scheint er derzeit der aussichtsreichste Kandidat für den Spitzenposten. Andrea Nahles, die junge, einflussreiche Partei-Linke, lässt streuen, sie sei an dem SPD-Vorsitz noch nicht interessiert. Sigmar Gabriel, der bisher Umweltminister war, hat sich mit seinem Anti-Atom-Wahlkampf unter Genossen zwar Respekt erarbeitet, gilt aber noch immer als Mann ohne Truppen. Und Klaus Wowereit muss erst einmal sehen, dass er die Lage in seinem Einflussbereich wieder in den Griff bekommt.

Also Steinmeier? Es sei "sofort auch für mich akzeptabel", wenn dieser neben dem Fraktionsvorsitz auch nach dem SPD-Vorsitz greife, sagt Noch-Parteichef Müntefering am Nachmittag.
Von Veit Medick

Karl Nolle im Webseitentest
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